„Wir sind ziemlich offen, was unsere Einflüsse anbelangt, denn das ist die Musik, die wir lieben:
Rush, Yes, Genesis und andere Bands. In einigen Abschnitten zollen wir sogar Dream Theater Tribut“ lässt Keyboarder Adam Wakeman (u.a. Ozzy Osbourne) über den Promozettel ausrichten. Das ist schlicht die größte Übertreibung des Progjahres 2012. Wenn man die ersten Minuten von „I Am Anonymous“ hört, hat man eher das Gefühl, das ist die beste DT-Coverband, die dann doch keine ist. Die Komplexität der überlangen Songs, der extrem hohe technische Stand der Musiker, ausgedehnte Solopassagen mit abgefahrenen Sounds, harte Metalkurzszenen, hymnische Mitsingrefrains und balladeske Passagen, das alles riecht meilenweit gegen den Wind nach „Six Degrees Of Inner Turbulence“, ein bisschen „Falling Into Infinity“ und dank der fetten Produktion auch nach den letzten beiden Scheiben der New Yorker Progkönige.
Doch Adam Wakeman, Sohn der Keyboard-Legende Rick Wakeman (YES) und längst selbst ein großer Name im Musikzirkus, und seine prominenten Mitstreiter vereinen so viel Genie, dass sie nicht zum Klon verkommen. Proggourmets werden sich beim Lesen des Namens Damian Wilson (THRESHOLD) ohnehin schon die Lippen lecken. Im direkten Vergleich mit James LaBrie singt er nicht so markant und druckvoll. Welche enormen Qualitäten Wilson aber in Sachen Klarheit und Charisma hat, beweist die Klavierballade „Soldier“ eindrucksvoll. Die Rhythmusgruppe besetzen die beiden britischen Alleskönner Lee Pomeroy am Bass (u.a. Steve Hackett und TAKE THAT!) und Schlagzeuger Richard Brook (von Rick Wakeman bis SUGABABES...).
Ein echtes Juwel hat Wakeman mit Gitarrero Pete Rinaldi aus dem Hut gezaubert. Der fiel bisher höchstens Insidern in Justin Hawkins' (THE DARKNESS) Nebenprojekt HOT LEG auf und erscheint im Internet ansonsten als Mitglied der völlig durchgeknallten Star Wars-Metaller (!) ANCHORHEAD (sollte man gehört haben). Dieser Kerl zieht nun auf seinem ersten großen Metal-Output dermaßen vom Leder, dass man schmerzhaft an die Kiefersperren beim Erstkontakt mit John Petrucci erinnert wird. In Sachen Schnelligkeit und Kabinettstückchen sind diese beiden Sixstringer absolut gleich auf. Der Unterschied ist, dass Rinaldi weiß, wie viel Geschwurbel der Song verkraften kann (Anspieltipp „Invasion“).
Zur Stilrichtung von HEADSPACE ist eigentlich schon alles gesagt. Den Briten gelingt es aber schon auf ihrem ersten Longplayer, eine eigene Handschrift zu entwickeln, die phasenweise auch an IQ, THRESHOLD, die senkrechtstartenden Landsleute von HAKEN und aufgrund des vielen Klaviereinsätze auch an deutsche Progger wie SUPERIOR oder VANDEN PLAS erinnert. Textlich geht es grob (die Texte lagen mir nicht vor) um Leben, Tod und Krieg, allerdings aus einer etwas nachdenklicheren Perspektive und vorsichtiger formuliert als bei DREAM THEATER. Natürlich wird instrumental die Sau rausgelassen, doch die Abschnitte sind kürzer gehalten als beispielsweise auf „Train Of Thought“. Dazu gibt es auch ganz andere Einschübe wie den sensationellen Chorteil und den Einsatz exotischer Instrumente in „In Hell's Name“. Erfreulich sind außerdem zwei Tatsachen an „I Am Anonymous“: Zum einen ist die dynamische Bandbreite, z.B. in „Daddy Fucking Loves You“, enorm und kommt dabei ohne harte Schnitte aus. Zum anderen wächst das Album bei jedem Durchgang. Die Songungetüme wirken anfangs überfordernd, doch nach und nach erschließen sich immer mehr Zusammenhänge und man kann sich auf die Details konzentrieren. Einziger Kritikpunkt ist, dass die Band bisweilen noch sehr verspielt wirkt und es dauert, bis man auf den Punkt kommt.
FAZIT: HEADSPACE dürften mit ihrem Debüt die gesamte moderne Prog-Gemeinde glücklich machen. „I Am Anonymous“ geht als die vielseitige Antwort auf „A Dramatic Turn Of Events“ durch und schlägt DREAM THEATER durch Unverbrauchtheit und weniger Vorhersehbarkeit.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 02.07.2012
Lee Pomeroy
Damian Wilson
Pete Rinaldi
Adam Wakeman
Richard Brook
Insideout
73:37
18.05.2012