Die spannendsten, unglaublichsten und, im doppelten Wortsinn, aufregendsten Geschichten schreibt nach wie vor das wahre Leben und die ungewöhnlichsten Überraschungen, die es einem Tag für Tag präsentiert, kreuzen sich mitunter schneller als man denkt. Manchmal sind es sogar überraschende Musik- und Kritiker-Geschichten. Eine davon möchte ich hier kurz erzählen, denn ohne das brandneue Album von INVERTIGO, das bereits mit seinem Titel „Veritas“ darauf hinweist, dass sich das Thema vorrangig um die Wahrheit dreht, hätte diese Geschichte wohl nie das wahre Licht der Welt erblickt. Dafür bin ich INVERTIGO sehr dankbar, denn ihre Musik vermag demnach mehr, als Klänge zu vermitteln, sondern auch Wahr- und Lebensweisheiten, die deutlich über „In vino veritas!“ (Im Wein liegt die Wahrheit!) hinausgehen!
Doch „meine“ Geschichte zu der „Veritas“ über das Album von INVERTIGO wird die Kritik beenden, denn in erster Linie geht es hier ja um die nordrhein-westfälische Prog-Band und deren zweites Album, dessen große Stärke nicht nur im textlichen Wahrheitsgehalt, sondern auch in der mutigen musikalischen Veränderung zum Vorgänger liegt. Während das Debüt „Next Stop Vertigo“ noch einen sehr starken Hang zum Neo-Prog der Marke MARILLION oder PENDRAGON mit einem Schuss SPOCK'S BEARD hatte, wendet sich diesmal das Blatt.
Ja, genau! „Veritas“ besitzt die progressive Leidenschaft, die SPOCK'S BEARD einstmals hatten, noch bevor NEAL MORSE mit dem lieben Gott fremdging. Neoprogressives wird größtenteils abgehakt, denn INVERTIGO definieren auf ihre eigene Art und Weise den Begriff „Progressiv“, indem sie Fortschritt mit Vielfalt und Anspruch kombinieren – textlich wie musikalisch. Dieses Album rockt auf allerhöchstem Niveau und stellt dem harten Brüderchen (Prog-)Rock das schöngeistige Schwesterchen Kunst, in Form von (bombastischer) Symphonik, ausufernder Komplexität sowie schwelgend-atmosphärischer Ruhe und Harmonie, an die Seite.
Bereits nach dem ersten Hören musste ich an die fantastische schwedische Band SIMON SAYS denken, die mich mit ihrem (allerdings sehr stark GENESISlastigen) Abum „Paradise Square“ zutiefst bewegten und für lange Zeit nicht mehr los ließen. Hinzu kommt noch, dass ich gerade erst das letzte Album von ALIAS EYE unter einer anderen Seite besprechen durfte und der immer wieder besonders hoch gelobte Gesang von PHILIP GRIFFITH ganz locker vom Invertigo-Sänger SEBASTIAN BRENNERT nicht etwa in den Schatten gestellt wird, sondern ganz genauso leuchtet und in gewissen Momenten (Dr. Ho) unglaublich ähnlich klingt. Einziger Pferdefuß aus ALIAS EYE-Sicht: „Veritas“ ist deutlich besser als „In-Between“, was wohl besonders auch einerseits an dem gelungenen Konzept und andererseits an den grandiosen Longtracks, wie „Suspicion“ und „The Memoirs Of A Mayfly“, liegt. Obwohl auch die fünf verbleibenden, sich zwischen 4 und 9 Minuten bewegenden Songs, eine Klasse für sich sind.
Bereits „Darkness“ beginnt mit einem dramatischen Piano-Intro, das sich in bombastische Höhen erhebt bis kristallklarer Gesang „Can you hear me? Can you tell me how you are? Can you see me in the dark?“ fragt – unsere Antwort würde wohl dem Sloagen Barak Obamas gleichen: „Yes we can! - Und wie!“ Und so lichtet sich der Schleier der Dunkelheit nicht etwa vor unserem „geistigen Auge“, sondern vor unserem „geistigen Ohr“, in das nach gut 5 Minuten sogar die Stimme des Papstes dringt. Zugleich aber hören wir „There is no place to hide … This darkness consumes me.“ - hier wird nicht die Erleuchtung gepredigt, sondern Anklage gegen diejenigen erhoben, die unser Universum mit ihren Lügen in ein finsteres Tal verdammen. Die Suche nach der Wahrheit beginnt damit, die Lügen zu erkennen und sie zu durchschauen.
Ein Kinderchor und eine Spieluhr eröffnen „Lullaby“, ein Schlaflied, das keins ist, was sofort durch die folgenden hart rockenden Gitarren klargestellt wird, die jeden noch so schönen Traum vertreiben. All die Lügen, hinter den angeblich so heilen gutbürgerlichen Fassaden, in denen man Kinder einlullt und deren Ängste vor der Nacht durch Schlafliedchen wegsingt, Nacht für Nacht für Nacht. „Mr. Freud, please help me out.“ - sogar die freudschen Traumdeutungen ziehen in diesen Song ein, der genauso komplex wie die Psychoanalyse eines SIGMUND FREUDs erscheint.
„Waves“ wiederum beginnt für progressive Verhältnisse sehr gewagt mit Wellenrauschen und einem Schifferklavier. Aber ist das bei solchem Titelnamen überhaupt ein Wunder? Doch keine Angst: INVERTIGO fabrizieren hier nicht etwa einen Prog-Shanty, sondern eine Ballade, die wellenförmig an das musikalische Ufer schwappt, um kurze Zeit später alle Spuren im Sand zu überspülen und mit einem treibenden Schlagzeug zwar keinen Tsunami, dafür aber einen gehörigen Sturm zu entfachen, der eine feurige GILMOUR-Gitarre mit fetter Orgel und wummernden Bass vereint, um sich der verlogenen Flut entgegenzustellen, die das kleine Boot „Wahrheit“ mit allen Mitteln versenken will.
Bitterböse ironisch schließt sich „Dr. Ho“ dem Wellen-Szenario an und macht sich auf außergewöhnliche Weise über die Schizophrenie des Schönheitswahns – nicht etwa der Frauen, sondern – der Männer lustig, die glattweg ein Ei dafür opfern würden, nur damit sie genug Haare auf ihrem Kopf haben, auch wenn das, was unter den Haaren ist, einem Vakuum gleicht. Diese grenzdebilen kopfbehaarten Hirnglatzen müssen erkennen, dass die Kosmetikindustrie sie mit jeglichem Haarwuchsmittel glattweg beschissen hat und sie nunmehr feststellen müssen: „You made a fool of me, Dr. Ho!“ Zur musikalischen Verwirklichung dieses haarigen Songs schreibe ich hier kein Wort, denn das wäre glatte Haarspalterei! „Dr. Ho“ muss man einfach hören, um sich danach ordentlich die Haare über so viel Einfallsreichtum raufen zu können!
Ganz anders dagegen klingt dann „Suspicion“. Die ersten Minuten vermutet der Hörer, in eine neu Variante von KANSAS' „Dust In The Wind“ versetzt zu werden. Ein wahres Wechselbad musikalischer Gefühle, das sich aus den Boxen oder Ohrmuscheln der Kopfhörer über den bedächtig Lauschenden ergießt. „Suspicion“ nimmt einen an die Hand und erzählt die musikalische Geschichte eines Verzweifelten, der alle Lügen um sich herum nicht mehr erträgt und zu der deprimierenden Erkenntnis kommt: „They're killing me and I know it!“ Unglaublich trauriger Gesang wird hier progressiver Härte gegenübergestellt – bedrückende Wahrheit trifft auf laute Lüge. In den instrumentalen Passagen übernimmt dann das Piano die Rolle des Gesangs. Nach knapp 14 Minuten endet diese musikalische Tragödie, die zugleich ein kleines Meisterwerk geworden ist.
Eigentlich hätte die CD hier enden können – der Eindruck wäre grandios und bleibend gewesen und das Risiko, nach solchem 43-minütigen Prog-Parcours vielleicht durch irgendwelche Fülltitel den Gesamteindruck zu verwässern, wäre nicht gegeben. Doch was machen INVERTIGO? Sie setzen mit den letzten beiden Songs neue Maßstäbe, die sogar ganz locker für die immer und ewig mit Lobpreisungen überschüttete deutsche Hamburger Vorzeige-Progband SYLVAN die Messlatte höher legt, als „Sceneries“ je zu überspringen vermochte.
„Truth“ macht dem Namen alle Ehre, denn der Song enthält zwar keinen Gesang, dafür aber jede Menge Lügen, die uns z.B. Politiker Tag für Tag um die Ohren hauen und gegen die wir uns schon gar nicht mehr wehren, sondern sie einfach nur noch überhören. Wie selbstverständlich nehmen wir diese Lügen hin, die uns Amtsinhaber, Minister und Präsidenten präsentieren und scheinen dagegen immun geworden zu sein, gemäß dem Motto: „Man kann ja doch nichts machen – gegen die da oben!“ Na klar kann man! Bewahrt einfach die Worte, mit denen uns diese Polit-Ganoven belügen auf und macht einen Song daraus! Wenn ihn genug hören, erwächst vielleicht auch Widerstand daraus – JOHN LENNON hat uns doch längst gezeigt, dass Musik in die Politik eingreifen und die Mächtigen mächtig ärgern kann, so laut sie auch mit ihren Perlen rasseln.
Dass dies sogar mit astreinem Prog-Rock funktioniert, beweisen INVERTIGO. Sie sampeln jede Menge Politikeraussagen, die so verlogen sind, wie beispielsweise die Behauptung, dass Adolf Hitler ein Friedensengel wäre, direkt in diesen Song hinein. Und plötzlich hört man die Originalstimme von George Bush, der seinen friedlichen Grundcharakter betont bzw. Mr. Clinton, der auf sexuelle Enthaltsamkeit steht, oder aber von Walter Ulbricht, der ein ganzes Volk einmauern lässt, nachdem er kurz zuvor betont hat: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“. Kurze Zeit später dürfen wir dann sogar Angela Merkel, das (angeblich ost)deutsche Pfarrerstöchterlein (mit Hamburger Wurzeln) im Originalton hören, die uns locker und lässig sagt, dass das Gebot „Du sollst nicht lügen!“ zumindest bei ihr und der Politik wohk nur selten zur Anwendung kommt: „Man kann sich nicht darauf verlassen, dass das, was vor den Wahlen gesagt wird, auch nach den Wahlen gilt.“ (Im Original-Merkelsprech auf „Truth“ zu hören!). Noch schöner aber wird es, wenn Christian Wulff, die größte Bundespräsidenten-Flachzange, die Deutschland jemals aufzubieten hatte, im Original seinen Pfeffer zur Pressefreiheit ablassen darf: „Ich weiß – und finde es richtig – dass die Presse- und Informationsfreiheit ein hohes Gut ist in unserer freiheitlichen Gesellschaft!“
Und damit sind wir auch bei meiner angekündigten Kurzgeschichte, die wirklich „veritas“ ist! Einen Tag, bevor ich mich hinsetzte, um die Kritik zu einem anderen Album auf einer anderen Seite zu veröffentlichen (Auf www.musikreviews.de existiert keinerlei Zensur und jeder Autor ist ausschließlich selbst für das verantwortlich, was er hier schreibt!!!!), ließ man mich wissen, dass ich eine bestimmte Formulierung zum Vergleich nicht verwenden dürfe, weil sie angeblich diffamierend sei und Politik, Ironie und Prog sowieso nicht zusammenpassen. Der Satz, den ich zu streichen hatte, warf einen Vergleich auf, in dem ich ironisch auszudrücken versuchte, dass die Vergleiche mit anderen Bands auf dem Promo-Zettel der Band eine ähnliche Relevanz hätten wie der Begriffe Ehre und Sold kombiniert mit dem Namen Wulff. Der Zensurhasser aus dem Osten unterwarf sich mal wieder dem Zensoren aus dem Westen, nur damit eine Kritik online gehen konnte. Und mal wieder hätte ich es wie selbstverständlich hingenommen … nur … nur … nur … INVERTIGO haben mich gerade eines Besseren belehrt. Und deshalb bin ich dieser Band, der Musik und der textlichen Grundeinstellung von „Veritas“ sehr dankbar. Denn das hier ist garantiert nicht „Die Erinnerung einer Eintagsfliege“, die 22 Minuten lang in allerbester Progmanier am Ende von „Veritas“ vertont wurde uns sogar mit Saxofon, Flöten und sonstwas aufwartet, um zu beweisen, dass progressive Rockmusik mehr sein kann, als nur Klang, sondern zugleich auch wahre Kunst und politisches Statement, selbst wenn wir in unseren eigenen Kritikerreihen noch Kollegen haben, die das einfach nicht begreifen wollen!
FAZIT: „Veritas“ ist ein großer, leider noch nicht ganz eigenständiger Schritt hin zum „wahren“ Prog – made in Germany – der sich nicht nur zwischen SYLVAN und ALIAS EYE bewegt, sondern diese sogar überflügelt! Kein Album für Eintagsfliegen, sondern für die Ewigkeit!
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 31.03.2012
Matthias Hommel
Sebastian Brennert
Jacques Moch
Michael Kuchenbecker, Sebastian Brennert
Carsten Dannert
Marek Arnold (Saxofon), Niels Löffler (Gitarren-Solo auf "Truth"), Julia Gorzelanczyk (Gesang auf "Dr. Ho", "Suspicion" & "Memoirs Of A Mayfly"), Hey-Jo-Chor auf "Lullaby"
Progressive Promotion Records
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16.03.2012