Gibt es hier jemanden, der Chansons liebt?
Nein!?
Gibt es hier jemanden, der Progressiven Rock liebt?
Ja!?
Gibt es hier jemanden, der sich eine Vereinigung beider musikalischen Stile in einem Song oder ganzem Album vorstellen kann?
Nein?!
Egal, wie eure Antwort auch lautet – JELLYFICHE muss man einfach kennengelernt haben, um am Ende alle drei Fragen mit einem lauten und deutlichen „Ja!“ zu beantworten. Leider macht mir dieses Album auch schmerzlich klar, wie schade es ist, dass ich der französischen Sprache nicht mächtig bin, um die umfangreichen Texte dieser kanadischen Band zu verstehen.
Musikalisch allerdings gibt es auch ohne jegliche Textkenntnisse jede Menge zu entdecken!
Nach 2:45 Minuten glaubt der Hörer, er hätte sich gerade für genau 10 Sekunden in den Titel „Echoes“ von PINK FLOYD verirrt (Mehr will ich an dieser Stelle nicht verraten!) und „Expansion“ klingt wie die Kombination von „Cadence And Cascade“ und „Matte Kudesai“ unserer königlichen FRIPP-Mannen. „Genèse“ erweckt den Eindruck, dass uns ein Song von KRAFTWERK erwartet, den plötzlich harte Gitarren in eine völlig andere Richtung lenken. Und wenn jemand mal ganz kurz etwas Free-Jazz hören will, darf er diesem dann ein paar Sekunden lang auf „Le Merchand D'Hommes“ lauschen. Vielleicht ist das ja nicht jedermanns Sache, weil man doch mehr auf Worldmusic steht. Kein Problem, „Au Nom D'Apo Calypso“ wird euch befriedigen und an einigen Stellen sieht man förmlich die erotische Bauchtänzerin vor sich herumtänzeln. Oder mögt ihr „Kid A“ von RADIOHEAD, dann gefällt euch garantiert der Beginn von „Les Amants De La Guerre“.
Was hier so unglaublich klingt, setzen JELLYFICHE in die musikalische Realität um. Aber nicht etwa indem sie irgendwelche Klon-Versuche unternehmen, sondern indem sie in ihre extrem komplexen Songstrukturen, in denen ein deutliches Bindeglied das Chanson ist, ständig kurze Musikschnipsel von hohem historischen Erinnerungswert „verstecken“. Um das alles verwirklichen zu können, fahren die beiden Hauptakteure von JELLYFICHE, der singende und textende Bassist SYD sowie der Gitarrist JEAN-FRANCOIS ARSENAULT, jede Menge Gastmusiker auf, die wie selbstverständlich neben Schlagzeug und Keyboard mit Violinen, Celli, Trompeten, Percussion, Glockenspiel und Kazoo (Membranophon, das durch Ansingen eine Membran schwingen lässt, die den Ton der Stimme deutlich verändert.) aufwarten.
Wer glaubte, mit LAZULI eine echte Entdeckung gemacht zu haben, der wird sich an den Kopf greifen und fragen: „Warum hatte ich eigentlich bisher noch nie etwas von JELLYFICHE gehört???“
FAZIT: „Symbiose“ ist das Glücksgefühl für alle, die sich nicht nur in der Schublade „Progressiver Rock“ wohlfühlen, sondern manchmal auch heimlich, still und leise eine Schublade öffnen, für die sie, wenn sie es zugeben würden, mitleidige Blicke der so genannten Musikkenner ernten würden. Aber keine Angst, der umgekehrte Fall tritt ein – zumindest bei denjenigen, die auf offene Ohren statt auf Schubladen bauen!
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 12.02.2012
Syd
Syd, Sylvain Auclair
Jean-Francois Arsenault
Thomas Brodeur, Sebastian Cloutier, Eric Plante
Syd, Bertil Schurabe
Sheila Hannigan (Violoncello), Pierre-Oliver Dufresne (Violine), David Carbonneau (Trompete)
Unicorn Digital Inc. / Just For Kicks
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06.12.2011