Eine Gesellschaft, in der technische und naturwissenschaftliche Denkmuster ein Monopol eingenommen haben und alles Geisteswissenschaftliche und Philosophische aus dem Weg geräumt wurde? Skandal!
Dabei ignorieren wir mal, dass viele Philosophen die Mathematik zur Grundlage ihrer Überlegungen gemacht haben und die angestrebte Dichotomie damit zumindest diskussionswürdig ist. Das Anliegen wird auch so klar: NEOSIS zeichnen eine von kalter Technik und Präzision beherrschte Zukunft, lassen Zahnräder rotieren und pusten reichlich Dampf in die Luft. Das bedeutet wieder einen Haufen Steampunk.
Der technische Extreme Metal, die hier ausgeübt wird, bekommt dadurch ganz nebenbei auch eine Berechtigung, denn welche Stilrichtung würde sich besser eignen, um eine solche Dystopie zu vertonen? NEOSIS ist nicht nur ein cooles Modewort, sondern auch ein Akronym: „New Evolution Of Society Influenced by Scientism“, will man darunter verstanden wissen. Melden bitte, wer dabei automatisch an MNEMIC („Mainly Neurotic Energy Modifying Instant Creation“) denkt? Bingo, die Parallelen sind auch musikalisch erdrückend. Polyrhythmen treffen auf klinisch wirkende Elektronika, Cleanes und Gebrülltes gibt sich regelmäßig die Klinke in die Hand, Riffs und Screams schwellen ab oder an, werden geloopt, verfremdet oder leiser gedreht, um eine Bewegung von der Soundquelle weg zu simulieren – was mit FEAR FACTORY einst begann, ist längst in einer ausdefinierten Maschinenwelt angelangt, die Furcht durch Sterilität erzeugt. THE INTERBEING haben das Gebiet jüngst noch ausgebaut, NEOSIS fügen ihm eine weitere Ecke hinzu, irgendwo an der Grenze zum technischen Death Metal von THE FACELESS, PSYCROPTIC und OBSCURA.
Doch ist die tote Welt nicht vielleicht nur Vorwand, auf den Trendzug aufzuspringen, der gerade über den Extremsektor rattert (und die „koloss“ale Dampflok ist ja auch gerade wieder wie meschugge an vorderste Front geprescht)? Fast schon zu aufgeregt scheppern die Schweizer mit Gitarren los, die ungewöhnlich stark in den Vordergrund gemischt sind und zwanghaft alle paar Millisekunden wieder einen neuen Anschlag brauchen, um nicht abzusaufen – und das, obwohl die Melodieführung an sich relativ simpel bleibt. Hauptsache jedenfalls, es hört sich schön verhackstückt an. Die Ambience geht in der Breite in Ordnung, im Detail allerdings kommen regelmäßig elektronische Effekte durch, die viel zu sehr nach Jahrmarkt klingen (die Atmosphäre aber zum Glück nicht maßgeblich zerstören, weil sie am Ende doch halbwegs subtil im Hintergrund bleiben). Ähnlich XERATH werden auch mal Soundeffekte (knirschende Maschinenräder, kryptische Sprechrollen etc.) eingesetzt, um den narrativen Unterbau zu verstärken. Wie zuletzt schon bei THE SAFETY FIRE wird der zunächst positive Eindruck vor allem durch den digital hochgezüchteten Cleangesang relativiert, der austauschbar einmal die Schnellstraße vom linken ins rechte Ohr nimmt. Mit den Screams sieht es auch nur minimal besser aus – sie nerven nicht, ergeben sich aber widerstandslos der Monotonie.
Wie sieht es mit dem Songwriting aus? „Unwilling Fate“ markiert hier den Höhepunkt. So, wie die Saiten da gekitzelt werden, glaubt man, der Vertonung einer fetten, aber flinken Metallspinne beim Krabbeln beizuwohnen (*krabbel* *flitz* *zwisch* - STOP! *flitz* *krabbel* *wusch* - STOP!). An dieses Niveau gelangen die meisten anderen Stücke leider allenfalls in vereinzelten Breaks heran, die Refrains dagegen langweilen oft, indem sie dem Hörer Orakelfähigkeiten vorgaukeln.
FAZIT: Für Technikfreaks aus dem Dreiländereck “Math Metal – Technical Death Metal – Futuristic Ambient Industrial” bestimmt eine kleine Entdeckung, zumal Mischverhältnis und Umsetzung von Gitarren und Gesang von den Schweizern sehr eigen interpretiert werden; gerade der Cleangesang ist aber mit Verlaub Geschmacksache, und etwas unvorhersehbarere Strukturen ohne erzwungene bzw. falsche Komplexität durch Hase-und-Igel-Rhythmusspielchen könnten sicher nicht schaden.
Punkte: 8/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 01.04.2012
Didier Bender
Thomas Götz
Greg Anxionnaz
Anthony Cohen
SAOL / H'Art / Zebralution
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05.04.2012