Erster Durchlauf vor ca. 2 Monaten: Hoppla, NEUROSIS sind auf dem Easy-Listening-Trip?
Einhundertster Durchlauf heute: NEUROSIS sind vielleicht eingängiger als zuletzt, aber der Trip, auf den der Hörer unweigerlich mitgenommen wird, ist immer noch unvorhersehbar und voller fremder Tiefen und Höhen.
Fünf lange Jahre haben sich NEUROSIS Zeit gelassen, um einen würdigen Nachfolger für „Given To The Rising“ zusammenzuzimmern, das wieder einen Aufwärtstrend nach der durchwachsenen „The-Eye-Of-Every-Storm“-Scheibe markierte. Mehrfache Live-Rituale zeigten, dass mit den Sludge-Meistern weiter zu rechnen ist, die Intensität, kantige Brutalität und Emotionalität inklusive visuellem Overkill war ungebrochen.
Erwartungsgemäß erfindet sich das Oakland-Sextett nicht komplett neu, aber variiert Altbewährtes geschickt und so klingt „Honor Found In Decay“ wieder anders als die vorhergehenden Scheiben. Die Sperrigkeit, die die letzten NEUROSIS-Alben durchzogen hat, ist deutlich reduziert und phasenweise wird gar an die Eingängigkeit und den schweren Fluss der Zeit von „Souls At Zero“ bis zu „Through Silver In Blood“ erinnert. Die Instrumentierung von NEUROSIS-Songs war schon immer ausgetüftelt und auch diesmal legt man großen Wert auf das Detail. Geige, Dudelsack und mächtige Orgel-Sounds finden sich immer wieder im Hintergrund, das archaische Tribal-Drumming mischt sich endlich wieder verstärkt in Feedback- und Brüll-Orgien, die sonst nur aus der Live-Situation bekannt sind.
Aber das sind nur Feinheiten im Gesamtbild, welches von jeher und weiter von schweren repetitiven Gitarren-Riffs und dem vielleicht technisch unvollkommenen, aber unverwechselbaren, Gesang getragen wird. Es bedarf eigentlich kaum mehr als Minutenbruchteile, bis NEUROSIS an ihrem unverwechselbaren Stil und organischem Sound erkannt werden. Und dennoch ist „Honor Found In Decay“ ein Brocken geworden, der nicht leicht zu konsumieren ist. Zu hart ist das perfektionierte Spiel mit der Dynamik, zu bohrend ist die emotionale Tiefe der Stimmen und Gesänge, die in Verzweiflung gipfelnde Nachdenklichkeit transportieren. Und wenn „At The Well“ nach 10 Minuten und einer heftigen Katharsis zur Ruhe kommt und die „In-A-Shadowworld“-Gesänge verstummen, sind sie wieder da, die Schauer, die die Band dem Hörer wie keine andere über den Rücken zu treiben vermag.
FAZIT: Maximaler Respekt für ein reifes Spätwerk einer Genre-definierenden Band, die es sich wahrlich erlauben darf, Eigenzitate zu verwenden, aber trotzdem nicht nach schalem Aufguss alter Glanzzeiten schmeckt. Anwärter auf die „Platte des Jahres“.
P.S.: Den Getöteten des sinnlosen Massakers in Newtown gewidmet. R.I.P.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 15.12.2012
Dave Edwardson
Steve Von Till, Scott Kelly, Dave Edwardson
Steve Von Till, Scott Kelly
Noah Landis
Jason Roeder
Visuals - Josh Graham
Neurot Recordings
60:31
30.10.2012