Man stelle sich vor, AT THE GATES hätten nach "Slaughter Of The Soul" weitergemacht und wären noch ein wenig gemäßigter und melodischer geworden, IN FLAMES dagegen nach "Clayman" ruppiger und metallischer, ohne die Hitqualitäten zu vernachlässigen, und die Instrumentalfraktion von EDGE OF SANITY hätte technisch endlich einmal den Ansprüchen ihres Frontmanns Dan Swanö entsprochen. Wenn die drei Bands dann gemeinsam einen Sampler zusammengestellt hätten, klänge dieser wohl in etwa so wie "Five Scars". Unglaublich, aber wahr: Trotz "falscher" Herkunft enthält das nach jahrelanger Pause erst fünfte Album der deutschen NIGHT IN GALES perfekt dargebotenen schwedischen Melodic Death Metal. Dieser klingt gleichzeitig wie aus einem Guss und doch unglaublich abwechslungsreich, kein Track gleicht dem anderen. Obwohl auf moderne Sounds oder stilistische Experimente komplett verzichtet wird und das gesamte Material eher "traditionell" (im Sinne des Melodic Death Mitte der Neunziger) angelegt ist, wirkt "Five Scars" völlig auf der Höhe der Zeit und keinesfalls nostalgisch. Dies ist sicher auch ein Verdienst von Dan Swanö, der dem Album einen perfekten Mix verpasst hat und es völlig zu Recht als eines der Genre-Highlights des Jahres bezeichnet.
Auch wenn es von den typisch sirrenden, zweistimmigen Gitarrenläufen der Göteborg-Schule nur so wimmelt, ständig integrieren NIGHT IN GALES kleine, aber feine Ideen, die für Abwechslung sorgen. Ab und zu gibt es stimmungsvolle Streicher zu hören, die sich perfekt mit den Leads ergänzen. Der Gesang pendelt nicht nur zwischen Kreischen, Schreien und Grunzen, sondern bietet auch vereinzelt dramatisch und klar gesungene Melodien und vermischt das alles auch noch nahtlos. Und an Songwriting und Arrangements fährt man sowieso alles auf, was man in diesem Bereich machen kann: Rasende Passagen, treibende Grooves, cleane Gitarren, wunderschöne Harmonien. Manchmal wirken dadurch die Tracks an sich schon fast zu kurz. Es passiert so viel, dass man oft überrascht ist, schon wieder bei der nächsten Nummer zu sein. Trotzdem sind die Kompositionen durchaus ausgereift, denn ganz "nebenbei" hat man auch einige echte Hits zu bieten, wie den packenden Titeltrack, das getragene "The Tides Of November" oder den schweren "Blackmouth Blues".
FAZIT: Besonders originell mag "Five Scars" nicht sein, aber es macht unheimlich Spaß, diese Musikrichtung endlich einmal wieder so perfekt präsentiert zu bekommen: technisch hervorragend, unglaublich mitreißend und spielfreudig, erstklassig produziert und abwechslungsreich komponiert. Das Album strotzt nur so vor packenden Melodien und Riffs, man hätte der Band fast raten sollen, sich einige davon aufzusparen. Wer auf schwedischen Melodic Death Metal mit ausufernden, mehrstimmigen Gitarrenharmonien steht, muss hier zugreifen.
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 04.01.2012
Tobias Bruchmann
Björn Goosses
Jens Basten, Frank Basten
Adriano Ricci
Lifeforce Records
44:40
04.11.2011