Zurück

Reviews

Paradise Lost: Tragic Idol

Stil: Dark Metal / Gothic Metal

Cover: Paradise Lost: Tragic Idol

PARADISE LOST als Dinosaurier zu bezeichnen, ist nach 13 Alben wohl nicht zu weit aus dem Fenster gelehnt. Nun bringt man Dinosaurier ja gerne mit Evolutionstheorien in Verbindung. Schlagen wir also die Biologiebücher auf und lesen das Kapitel „Punktualismus“: Sprunghafte Entwicklungsschübe, die sich mit langsamer Veränderung abwechseln, steht da. Oder, wie Freund Wikipedia es formuliert: Der Punktualismus liefere „eine Erklärung von diskontinuierlichen Änderungsraten und Sprüngen in Fossilreihen“.

Die Briten dürften sich zwar vehement dagegen wehren, als Fossilien beschimpft zu werden, aber die Beschreibung hat etwas für sich. Gerade glaubt man, sie zollen der Evolution allenfalls in Ultrazeitlupe Tribut, da machen sie plötzlich aus dem Stand heraus einen wahnsinnigen Sprung und wollen gleich ein ganz anderes Lebewesen sein. Nach den Immer-noch-Referenzwerken „Icon“ und „Draconian Times“ wuchsen dem Fisch beispielsweise mit „One Second“ Beine, als durch die Hinwendung zum Pop Greg Mackintoshs Gitarrenmelodien so deutlich ins Zentrum gestellt wurden, dass sie endgültig zum Wiedererkennungsmerkmal avancierten. PARADISE LOST wurde zur Marke. Nur zwei Jahre später wuchsen dem Fisch gar Flügel, als das elektronisch verspielte „Host“ erschien. Allerdings erregt ein geflügeltes, bebeintes Amphibienwesen eher Ekel als Entzücken, und so wurde „Host“ von der Kritik als „DEPECHE MODE für Arme“ gescholten. Entsprechend kleinlaut fiel „Believe In Nothing“ aus, eine logische Konsequenz dann auch das hochgradig experimentelle „Symbol Of Life“, das sich endgültig jeder Nachvollziehbarkeit entzog.

Dann wurden Sprungschanzen- und Stillstand-Taktik, die sich bislang im Wechsel vollzogen, miteinander vermischt. Man wählte einen selbstbetitelten Albumnamen und drückte den Reset-Knopf. Seither findet eine zugleich plötzliche wie stockende Annäherung an alte Großtaten statt – oldschool und modern auf einmal, mal zögerlich, dann mutig, vorwärts schreitend, um in die Vergangenheit zu gelangen. Elektronikspielereien wurden über Bord geworfen, die Gitarre wieder mit Stolz vor die Brust gepackt. Was aber bei vielen anderen Bands gerne schief geht, scheint bei PARADISE LOST zu funktionieren: Seither gab es von Album zu Album eine kleine Steigerung. „Tragic Idol“ könnte nun der Gipfel dieser Entwicklung sein.

Sowohl „In Requiem“ als auch „Faith Divides Us Death Unites Us“ versprühten aufgrund vereinzelt sehr starker Tracks schon eine gesundende Aura, im Ganzen fehlte ihnen aber noch die letzte Puste, um durchgängig das hohe Niveau zu halten. „Tragic Idol“ präsentiert sich nun deutlich ausgefeilter. Auch wenn auf den ersten Blick die großen Donnerschlaghymnen zu fehlen scheinen (Auf „As Horizons End“ vom Vorgänger klingt Holmes ja glatt wie eine dunkle Gottheit, die den Weltuntergang prophezeit), sie entblättern sich schließlich doch in hoher Dichte.

„Theories From Another World“ beispielsweise: Ein mächtiges, dominantes Riff, das sich durch den kompletten Song zieht und rhythmisch immer wieder in einen neuen Kontext gesetzt wird – das Zusammenspiel der beiden Gitarristen entpuppt sich hier als herausstechend. „Fear Of Impending Hell“ weist dagegen wieder ganz andere Stärken auf, den Wechsel von laut und leise etwa oder ein prägnantes Solo. „In This We Dwell“ bedient die Vorschlaghammerfraktion mit reichlich Dampf und Galopp, „Solitary One“ und natürlich der Titeltrack punkten mit ausgefeilten Refrain-Harmonien und „Cru-ci-fy“ ist der One-Liner unter den Stücken – drei Silben, die zukünftig sicherlich gerne live mitgegröhlt werden.

Bei all der Abwechslung ist relevant zu erwähnen, dass trotzdem alles wie aus einem Guss klingt. „Tragic Idol“ ist tatsächlich die wahr gewordene, Eier legende Wollmilchsau, wie man sie sonst nur aus theoretischen Überlegungen kennt. An jede Phase in der langen Geschichte von PARADISE LOST wird zumindest für einen Moment erinnert, wenngleich der Fokus darauf liegt, an die ersten Höhepunkte anzuknüpfen. So führt die Mentalität wieder in die frühen 90er Jahre, die Weiterentwicklung über die letzten Dekaden wird aber nicht, wie sonst im Retro-Trend üblich, ignoriert oder gar totgeschwiegen, sondern zeigt sich auf natürliche Weise immer wieder bei verschiedenen Gelegenheiten.

FAZIT: So altert man in Würde. Als Teil eines bisher vierteiligen Revivals, das ein neues Teleskop nach alten Sternen justiert, ist mit einem abwechslungsreichen, traditionell auf die Macht des Mackintosh-Riffs setzenden und niemals redundanten Album der bisherige Höhepunkt gelungen. Damit gelingt das Kunststück, zu den oft zitierten „Basics“ zurückzukehren, ohne deswegen einen Teil der jüngeren Vergangenheit streichen zu müssen. Gerade auch, weil Nick Holmes’ Stimme inzwischen eine völlig andere ist, sollte in diesem Leben sicher niemand mehr ein zweites „Icon“ / „Draconian Times“ erwarten; „Tragic Idol“ ist deren gealtertes Abbild, voller Narben, die ein langes Leben unter Beweis stellen, in dem noch andere Dinge geschehen sind.

Punkte: 12/15

Erschienen auf www.musikreviews.de am 19.04.2012

Tracklist

  1. Solitary One
  2. Crucify
  3. Fear Of Impending Hell
  4. Honesty In Death
  5. Theories From Another World
  6. In This We Dwell
  7. To The Darkness
  8. Tragic Idol
  9. Worth Fighting For
  10. The Glorious End

Besetzung

  • Bass

    Steve Edmondson

  • Gesang

    Nick Holmes

  • Gitarre

    Greg Mackintosh (Lead), Aaron Aedy (Rhythmus)

  • Schlagzeug

    Adrian Erlandsson

Sonstiges

  • Label

    Century Media

  • Spieldauer

    46:06

  • Erscheinungsdatum

    20.04.2012

© Musikreviews.de