Wer hat den Prog erfunden? Die Schweizer... Naja, nicht ganz, aber in den letzten Jahr(zehnt)en haben sich die Eidgenossen als rührige Progrocker bewiesen. Ob relativ früh FLAME DREAM, die (als Marillion-Klon umstrittenen) DEYSS, die hochinteressanten (und mittlerweile leider untergetauchten?) CLEPSYDRA, SHAKARY oder auf PINK FLOYDs Pfaden wandelnd METAMORPHOSIS und ganz aktuell COSMOS (Rezension zum aktuellen Longplayer in Kürze), es gab und gibt einige Bands, die nahezu sämtliche Felder des Progressive-/Art-Rocks beackern. Vor einem guten Jahrzehnt (2001, um genau zu sein) gesellte sich THONK hinzu. Eher Projekt des Keyboarders Marc Grassi denn eigenständige Band, bekam das erste (und einzige) Werk wohlwollende Kritiken. Nils Herzog schrieb in seinem Fazit: „Ein absolut gutklassiges Album für alle, die auf rein Instrumentales stehen und auch weitgehend auf Gitarren verzichten können.“ Das letzte Stück des Albums hieß in weiser Voraussicht „RAK“ und unter diesem Namen veröffentlichte Grassi 2004 das rauere, trotzdem fest im härteren Retro-Prog fußende, „Lepidoptera“. Lange acht Jahre später erscheint der Nachfolger: „Lepidoptera II: The Book Of Flight“.
Musikalisch und produktionstechnisch ausgefeilter hat sich am Inhalt wenig geändert: Satter keyboardlastiger Prog wird auf den sechs Stücken zwischen fünf und knapp achtzehn Minuten geboten. Wie man an der Laufzeit sehen kann, sind die Songs mit über zehn Minuten in der Überzahl. Wer aufgrund des Covers eine spacige Komponente hinter dem „Book Of Flight“ erwartet, dürfte sich getäuscht sehen. Hier geht’s in die Vollen – Rolle in der Zeit rückwärts und mit Wucht und Verve symphonische Klänge zu Gehör gebracht. Obwohl Härte für RAK kein Fremdwort ist, hat das Ganze mit Prog-Metal wenig am Hut, lediglich wenige Gitarrensoli verweisen in diese Richtung. Hier werden himmelhochjauchzende Rockarien geschmettert, gelegentlich mit einer Überbetonung des Refrains durch vielfache Wiederholung.
Aber keine Bange, zwischen den Gesangseinlagen, die Dave Thwaites sehr stimmig übernimmt, gibt es ausladende Instrumentalparts, die zwischen gefühlvollen, leicht melancholischen Passagen und hymnischer Härte changieren; raum- und ergreifende Melodien machen es leicht „The Book Of Flight“ zu mögen.
Textlich ist das epische Werk gar nicht weit von dem anderen „The Book?“ entfernt; etwas milder und abstrakter geht es um die Selbstbestimmung des Individuums, die Chance sich gegen Autoritäten und (falsche) Götter durchzusetzen. Der in „Lepidoptera“ geschlüpfte Schmetterling beginnt selbst zu fliegen.
FAZIT: Groß in allen Belangen. Selbst die leisen Zwischentöne sind von getragener Erhabenheit. RAK kleckern nicht, zu keinem Moment, sie klotzen und wie. Aber sie können es sich auch erlauben. Mit Schwung prescht „Lepidoptera II: The Book Of Flight“ auf‘s mehrfach umgepflügte Spielfeld und erobert es im Sturm. Dass das Spiel seit langem bekannt ist, dürfte Fans, Freunde, Bekannte und Verwandte kaum stören, so überzeugend wie es vorgeführt wird. Da wird selbst der altehrwürdige Bolero zur Heavy-Prog-Nummer. Hopp Schwiiz!
Punkte: 11/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 18.05.2012
Stefan Gabele
Dave Thwaites
Stefan Gabele
Marc Grassi
Mike Liechti
Circle Records
64:24
23.03.2012