Und immer wieder grüßt aus Polen das progressive Murmeltier! Das murmelt allerdings derzeit am lautesten an den artrockigen RIVERSIDE-Gewässern vor sich her, während sich heimlich, still und leise aus den retro-proggigen Untiefen ein neues Wesen Richtung Prog-Himmel erhebt. Über vier Jahre dauerte es, bis dieses polnische Sextett nach „Stolen Thoughts“ (2008), ein sich damals stark im New Artrock suhlendes, recht düsteres Album, mit „Lost In Perception“ nicht nur ein Achtungszeichen setzt, sondern die gesamte Ausrufezeichen-Palette ausräumt.
Beängstigende Keyboardflächen verbreiten erneut eine geheimnisvoll-mystische Stimmung, die jedoch unerbittlich von Gitarren „zersägt“, Bässen „zugedonnert“, Schlagzeug vor sich hergetrieben und einem Sänger, der locker als EDDIE VEDDER-Ersatz bei PEARL JAM durchgehen würde, bereichert wird. Wenn dann sogar bei „Musical Land“ diese herrlichen FRIPPertronics erklingen, die uns des Öfteren im musikalischen Spielzimmer des crimsonfarbenen Königs begrüßen, dann erscheint diese progressive Welt, nach der wir uns so sehr sehnen, wieder richtig heil zu sein.
Doch nicht nur diese Vielfalt, die sich längst aus dem Umfeld der Landsmänner von der anderen Seite des Flusses verabschiedet hat, macht „Lost In Perception“ zu einem besonderen Album, sondern die vielen romantischen Momente, die sich in dieser progressiven Naturidylle verstecken. Klassische Piano-Motive, zärtlicher Frauengesang, schwebende Synthie-Traumlandschaften, akustische Gitarrenmotive und der Hauch von PINK FLOYDs „Wish You Were Here“, der einen im abschließenden Longtrack „Swallow The Green Tones“ gefangennimmt, machen in gewissen Momenten dieses Album regelrecht für all diejenigen unverzichtbar, die wissen, dass es nach PINK FLOYD tatsächlich auch PORCUPINE TREE gab oder dass dem „klassischen“ Art-Rock eben der „New-“Art-Rock folgte.
Wem das alles noch immer nicht reicht, der sollte wissen, dass auch die Verpackung dieser Musik mit viel Liebe gestaltet wurde – natürlich in einem dreifaltigen Digi-Pack und mit einem Booklet samt Texten sowie einer an ROGER DEAN, dem YES-Haus-und-Hof-Illustrator, erinnernden kunstvollen Aura, die das Geheimnisvolle der Musik mit einer passenden Optik vereint. Dazu verzaubert den Hörer der komplett akzentfreie Gesang zu Texten, die sich um den ständigen Widerstreit des Menschen im Kampf gegen die Kälte nicht nur der „Winter Lethargie“, sondern der sich in uns immer stärker ausbreitenden eigenen Eiseskälte dreht.
Im Jahr 2008 gehörte das Debüt „Stolen Thoughts“ zu den acht besten polnischen CDs des Jahres. Ich würde einen Besen fressen, wenn „Lost In Perception“ im Jahr 2012 nicht mindesten unter die Top-Five dieses Jahres kommt!
FAZIT: Das kleine, feine Label Progressive Promotion Records mausert sich immer mehr zu einem „Entdecker-Label“ für anspruchsvollen Prog-Rock voller Eigenständigkeit und zugleich mit einem hohen Potenzial an Wiedererkennungswert. Mit der polnischen New-Artrock-Band RETROSPECTIVE wartet ein erneuter progressiver Glücksgriff darauf, von der anspruchsvollen Prog-Rock-Hörerschar entdeckt zu werden.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 23.11.2012
?ukasz Marsza?ek
Jakub Roszak
Maciej Klimek, Alan Szczepaniak
Beata ?agoda
Robert Kusik
Progressive Promotion Records
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01.12.2012