Peter Braatz ist CAN-Fan und betritt 1976 wegen eines Interviews für eine Schülerzeitung „seine“ Kathedrale: Das „Innerspace“-Studio, in dem CAN die meisten ihrer Alben aufnahmen. Wenig später absolviert Braatz eine Malerlehre im Betrieb seines Vater, wird Sänger und zweiter Gitarrist einer jungen Band und nennt sich Harry Rag, nach dem gleichnamigen KINKS-Song (vom Album "Something Else by The Kinks").
Drei Jahre später erscheint die erste EP von S.Y.P.H., kurze Zeit später folgt das Debütalbum, mit Bandklassikern wie „Zurück zum Beton“, unvergessen der fröhliche Refrain „Zurück zum Beton, Zurück zum Beton, Ekel, Ekel, Natur, Natur, ich will Beton pur“, Industrie-Mädchen, Lachleute und Nettmenschen (auch heute noch tauglich als scharfsinnige Analyse der deutschen Comedy-Spaßgesellschaft), und „Mercedes“. Peter Braatz alias Harry Rag ist der Sänger der Solinger Band. Oder besser Anti-Sänger. Rag rumpelt, röchelt, greint, haucht und schreit sich durch die punkigen Songs, dass es eine wahre Freude ist (Jahre später zeigt er, entgegen eigenem Bekunden, u.a. auf „Lenz ist da“, dass er ein passabler Sänger ist). Wer glaubt, dass Helge Schneider, die einzig wahre singende Herrentorte ist, der sollte sich mal „Lametta“ von der zweiten LP „PST!“ anhören: „Da steht der Tannenbaum, seine Wurzeln sieht man kaum, er ist sooo grün, der Tannenbaum, er hat auch Nadeln und tut nadeln … Lametta, Lametta, Lametta … da steht der Tannenbaum, verheddert im Gardinensaum“ nölt Rag mit leicht besoffenem Charme. Loriot hätte es kaum besser hingekriegt. Helge S. schon gar nicht.
Im Hintergrund ein repetitives Percussionsmuster, spröde Bassläufe und eine Gitarre, die eher Störgeräusche als musikalische Linien abliefert. Produziert von Holger Czukay.
1980 befindet sich Harry Rag (plus Band) wieder im Innerspace-Studio und bittet den CAN-Musiker um die Produktion des zweiten Albums. Czukay sagte wider Erwarten zu, obwohl er die S.Y.P.H.-Texte nicht sonderlich schätzt. Aber schon das Debüt hatte neben den punkigen Songs auf Seite 1, eine zweite Seite, die nur drei Stücke enthielt. Improvisiert, ausufernd, schräg-sperrig – CAN im Blut.
Kleiner Exkurs: Für S.Y.P.H. – vor allem für Harry Rag – bedeutet Punk nicht stereotypes Runterkloppen von 3 Akkorden, gestreckt auf möglichst weniger als drei Minuten, gerne die SEX PISTOLS oder THE CLASH im Blick. S.Y.P.H. können auch das, sehen aber in Punk eher die Möglichkeit, das Unerwartete zu tun, zwischen Spaß und Avantgarde zu pendeln, assoziative Texte zu schreiben, thematisch mit der Industrie-Kultur des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu jonglieren, oder auch mal über langen, improvisiert wirkenden oder tatsächlich improvisierten Stücken zu schweigen. Näher bei FRIEDER BUTZMANN, MITTAGSPAUSE und sogar FOYER DES ARTS als bei KFC, ABWÄRTS oder gar dem unweigerlich folgenden seichten Ausverkaufs-Schwung der NDW. Kurzer Exkurs Ende.
Die Zusammenarbeit zwischen Czukay und S.Y.P.H. gestaltete sich schwierig, denn bis auf Harry Rag war der Rest der Band wenig begeistert. Produktionstechnische Welten und Arbeitsweisen prallten aufeinander, was dazu führte, dass Konzepte umgeschmissen wurden und „PST!“ in anderer Form erschien als ursprünglich geplant. Die Zweiteilung des ersten Albums wurde weitgehend beibehalten, sieben kurze Stücke kamen auf Seite eins und drei ausuferndere Expeditionen auf die B-Seite. Trotz des Produktionswirrwarrs verstanden sich die die neue Deutsche Welle und der Geist CANs prächtig. Nicht das einheitlichste, aber vielleicht das exemplarischste S.Y.P.H.-Werk.
„Little Nemo“ schaffte es nicht auf „PST!“ und wurde teilweise von Holger Czukay, dem man das Stück übereignet hatte, auf „On The Way To The Peak Of Normal“ verwendet. Immerhin hatte man sich nicht komplett zerstritten und so spielt Czukay Bass, Horn(!) und Percussions auf der „4. LP“. Die allerdings eher ein Harry-Rag-Solo als eine Gemeinschaftsarbeit darstellt: „Von einer Band, die es zum Zeitpunkt der Veröffentlichung gar nicht gab.“ Macht aber nichts. Denn es ging weiter mit S.Y.P.H., und der Live-Auftritt zu Carmen Knoebels (Mitinhaberin des legendären „Ratinger Hofs“ und „Chefin“ des Pure Freude-Labels) Geburtstag 2004 zeigt, dass S.Y.P.H. auch im neuen Jahrtausend noch wunderbar funktionieren.
Jetzt also Die „4. LP“. Ohne Bonustracks (leider), ein Remastering hat das Album eh nicht nötig. 1981 zum ersten Mal veröffentlicht, präsentieren sich S.Y.P.H. durchgehend als Nachlassverwalter AMON DÜÜLs, CANs und anderer Bands und Solisten, die „Krautrock“ als experimentelle Spielwiese verstanden, auf der von durchgeknallten Drogenexperimenten, über Neoklassik bis zu Free-Jazz alles möglich war.
„Little Nemo“ hat es mit gut 18-Minuten in den Mittelpunkt und als alleiniges Stück auf die zweite Seite der Original-LP verschlagen. Verwunderlich, dass die Band sich anfangs von dem Stück distanzierte, ist es doch eigentlich am ehesten die Fortsetzung der eigenen Punk-Interpretation. Im Zentrum ein absurd-komischer Text, drumherum wird das Zerdehnen des punktypischen knappen Dreiminüters um rund das Sechsfache zelebriert. Hypnotisch, pulsierend, pausierend, meist rudimentär auf das Trio Bass, Gitarre, Percussion reduziert, peripher erweitert um Samples und Geräuschkulisse. Eine Collage, die frühe unbedarfte Zusammenkunft von Industrial- und Ambient-Sounds, eng verbunden mit der eigenen musikalischen Geschichte.
Mit den fünf vorangegangen „Songs“ zwischen einer und zwölf Minute(n) sieht es ähnlich aus. Es nähert und nährt sich aus der Stille. Der Opener „Die Deep“: Störgeräusche aus einem experimentellen Horrorfilm, mit „Hänschen Horror“ und „Lämmerschwanz“ streifen wir durch verwahrloste Industrielandschaften, unweit einstürzender Neubauten, bevor „Nachbar“ und “Satarasch“ für eine experimentelle, entspannte Klangreise mit wohldosierten Ausbrüchen, nicht nur zum Jugoslawen um die Ecke (wie – gibt es nicht mehr?), sorgen. Czukay hat die zurückgelehnt und improvisiert wirkende, doch hochkonzentrierte Produktion im Blick. Harry Rag ist glücklich und raunt nur ganz gelegentlich Alltagssurrealismen ins Mikrofon. „Jaaaa!“ „Warum?“
FAZIT: Feine Ausgrabung! MIG begeben sich von den Siebzigern nahezu bruchlos in die Achtziger. S.Y.P.H.s „4.LP“ ist kein typischer Stellvertreter der punkigen, wortakrobatischen und avantgardistischen Seite der NDW, bevor diese vom Kommerz komplett vereinnahmt wurde. Aber als Stimmungsbild und Bindeglied zwischen den Jahrzehnten und Stilen (demnächst auf ARTE: Vom Krautrock zur Neuen Deutschen Welle. Oder so) auf jeden Fall eine Entdeckung wert.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 15.07.2012
Jürgen Wolter, Holger Czukay
Harry Rag, Uwe Jahnke
Uwe Jahnke, Harry Rag
Uli Plutsch, Holger Czukay
Holger Czukay
MIG Music
39:23
29.06.2012