Gestern (am 5. Juli 2012) ist in meinem Haus der Blitz eingeschlagen!
Er hat ziel- und passgenau meine Telefonanlage, samt DSL und WLAN, sowie meine Satellitenanlage plus Receiver zerlegt und allen Sicherungen den Garaus gemacht. Besonders aber hat er nicht nur mir, sondern auch meinem Hund und meiner Katze, einen Schock für's Leben verpasst. Denn dieses helle Licht samt unmittelbarem, bombengleichem Knall und dauerhaftem, schwungvollem Nachgrummeln werden wir wohl nie vergessen.
Trotzdem habe ich großes Glück gehabt, denn nachdem die Sicherungen erneuert waren und der Strom wieder in seinen geordneten Bahnen verlief, durfte ich wenigstens feststellen, dass meine Musikanlage diesen Anschlag des Donnergottes (Ist das ein Wunder nach THE?BOOK???) auf mich überlebt hat. Genau der richtige Zeitpunkt also, um ein Album zu besprechen, das von außen wie ein sich düster zusammenbrauender Gewitterhimmel aussieht, der sich in Kürze mit brachialer Gewalt entladen will. Schaut man jedoch genauer hin und öffnet dieses vierteilige Digi-Pack, so gelangt man zu der Erkenntnis, dass dieses scheinbare Gewitter offensichtlich eine Ultraschallaufnahme ist, die den Bauch einer Schwangeren und deren Fötus zeigt.
Genau die richtige CD für meine Stimmung?
Oder genau die falsche?
Ein Versuch nach diesem traumatischen Erlebnis ist's allemal wert.
Also öffne ich die graugewittrige Hülle, hinter der sich zwei CDs verbergen, die jedenfalls keine Party-Mucke vermuten lassen. Jetzt erst kann man die Song-Titel lesen, die auf der CD1 (A New Life Part I – Old Life) vermuten lassen, dass es hier um die Zeugung, Schwangerschaft, speziell den 8. Monat und die letzten Tage vor der Geburt dreht. Schnell scheint klar zu werden, dass die Musik wohl aus der Perspektive des ungeborenen Embryos vertont worden ist, der, einem Donnergrollen gleich, in der wärmenden Mutterbauch-Hülle die ersten Klänge der Außenwelt in Kombination mit den inneren Klängen seines nicht mehr lange bewohnten „organischen Bauchhauses“ wahrnimmt.
Was wohl erwartet meinen Hund und mich, wenn ich „A New Life Part I – Old Life“ in den Player einfahren lasse?
Bereits nach einer Minute blickt mir mein Hund ähnlich entgegen wie zu dem Zeitpunkt, als das markerschütternde Gewitter aufzog.
Aus den Lautsprechern wummern mir so tief getragene Bässe entgegen, dass die Glastüren meiner Schrankwand beängstigend zu scheppern anfangen. Ein, das beinahe komplette Album, durchziehender Moll-Ton hält sich permanent im Hintergrund. Ein wenig kommen sofort Erinnerungen an „Zeit“ oder „Atem“ von TANGERINE DREAM auf. Doch dann gewinnt durch sehr universell eingesetzte elektronische Drum-Sounds das Album an Tempo. Ähnlichkeiten zu BRIAN ENOs „Nerve Net“ oder „The Shutov Assembly“ gewinnen die musikalische Oberhand. Dazu werden Klang-Collagen, wie Vogelgezwitscher, Rückkopplungen, sich öffnende Stahltüren, Frauenstöhnen und vieles mehr, in den insgesamt sehr beängstigenden Klang-Kosmos eingefügt. So ähnlich wiederum klangen die Frühwerke der EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN oder die recht abgefahrenen Solo-Werke von CARLOS PERON. Und selbst wenn der Sticker auf dem Album ankündigt, dass diese Musik etwas für Fans von MURCOF, MAX RICHTER, FENNESZ und ARVO PART – also so eine Art experimentell-elektronischer Musikminimalismus – ist, so wären wohl auch meine Höreindrücke durchaus passend für den Sticker auf dem Album von Denovali Records. Ein Label, das gerade für diese Art von Musik einen hohen Stellenwert genießt und dem mit der Veröffentlichung der letzten beiden SANKT OTTEN-Alben ein echter Glücksgriff gelungen ist.
Der Italiener EUGENIO CARIA, der von der Insel Sardinien abstammt, und wohl der einzige Klangtüftler hinter SAFFRONKEIRA ist, setzt viel stärker auf eine Form experimenteller Elektronik als auf melodische E-Klanglandschaften mit Hang zum frühen Krautrock, wie wir ihn von ASHRA TEMPEL, KRAFTWERK, NEU!, KLAUS SCHULZE oder TANGERINE DREAM kennen. Der Hörer selber erscheint in dieser Musik wie in einem tiefen Ozean zu ertrinken, der, während er immer mehr nach unten gezogen wird, seinen Blick nach oben richtet und die Lichtspiele und Reflektionen der Wellen an der Wasseroberfläche beobachtet, bis der allerletzte Strahl in der unendlichen Tiefe direkt vor seinen weit aufgerissenen, dem Entsetzen unausweichlich entgegenblickenden Augen untergeht. Da passt diese Symbolkraft des sich im Mutterleib befindlichen Fötus hervorragend. Ja, so ähnlich können sie klingen, die Töne, die man vernimmt, wenn man sich im Bauch einer Schwangeren befindet, bevor man sich durch ihre weit geöffneten Beine dem Licht dieser Welt und den neuen Klängen entgegenquält.
Im zweiten Teil dieses Neuen-Leben-Albums allerdings wird die nachgeburtliche Geschichte immer düsterer und bedrückender. Wie's scheint verfällt das Baby einer kompletten Zerstörung seiner Psyche, die darauf hinausläuft, dass es nur noch vor sich hinvegetiert. Wie dieser Zustand musikalisch umrahmt wird, ist sicher für die Leser dieser Zeilen nicht schwer zu erraten. Ganz ähnlich der ersten CD bestimmen wieder die Bass-Töne das musikalische Geschehen, das noch stärker als auf der ersten CD ausgebremst wird. Ambientartige elektronische Schwingungen schweben durch den Raum, es knistert an allen Ecken und Kanten, ein eintöniger Synthesizer-Klang hebt und senkt sich, während ein wummernder, schlagzeugähnlicher Ton seine unrhythmischen Spielereien betreibt, so als wäre eine LP noch zu Schallplattenspieler-Zeiten in einer Rille hängen geblieben.
Mit Piano-Geklimper und hintergründigen Sprechpassagen erfolgt kurzzeitig bei „First Denti“ eine akustische Wende. Dazu ein elektronisches Cello, das natürlich wieder nach dem „Atem“ der „Zeit“ von TANGERINE DREAM klingt. Eigentlich ist dieser Titel für mich einer der Höhepunkt der beinahe 140 Minuten, die wir uns musikalisch mit diesem neuen Leben am Rande der Schizophrenie aus sardischer Sicht auseinandersetzen!
Auf „190305“ taucht urplötzlich eine akustische Gitarre auf, die uns aus der bisherigen Finsternis, die dieser ganze „Soundtrack einer ungewöhnlichen Geburt im Angesicht des Wahnsinns“ vermittelt, befreit. Ein erlösendes Gefühl, das leider nicht sehr lange andauert und in „Acceptance Of Mental Disorder“ wieder im experimentalen, blubbernden Elektronikgrummeln versinkt.
Ganz seltsam aber endet das Album. Genau nach dem neusten „KLAUS SCHULZE lässt LISA GERARD Opernarien singen“-System schleppt sich „Endless Agony Of Being Sick“ seinem eintönigen Ende mit klassischem Schmonzetten-Faktor entgegen, während eine Synthie-Fläche die nächste jagt, und den bis zu diesem Zeitpunkt aufgekommenen „elektronischen Gruselfaktor“ entschärft. Ein Wandel vom elektronischen Experiment zu episch-orchestraler Elektronik. Ein seltsamer Bruch eines an Brüchen reichen Elektronik-Albums.
FAZIT: „A New Life“ ist ein atmosphärisches und zugleich beängstigendes Album geworden, das musikalisch mit den Hörgewohnheiten des stillen Lauschers experimentiert und ihn in die eine oder andere Schockstarre versetzt. Ein Gewitter zieht auf – nicht nur am Himmel, sondern auch in den Boxen, wenn SAFFRONKEIRA den Musik-Gewitter-Gott spielt.
PS:
An dieser Stelle ist im Hier und Heute ein besonderer Dank fällig. Nachdem mich NORBERT SCHÜTZE von BRAINMATRIX heute (12. Juli 2012) besuchte, laufen wieder alle weltweiten Verbindungen, die mir bisher so schmerzhaft vom Donner-Gott abgeschnitten wurden. Und so darf diese Kritik trotz aller göttlichen Einmischungen, die nur ein paar üble Naturgewalten waren, das Licht dieser Welt erblicken. Vielen Dank dafür!
Erschienen auf www.musikreviews.de am 13.07.2012
Eugenio Caria
Eugenio Caria
Eugenio Caria
Denovali Records
64:15 / 73:31
19.07.2012