„Feat. Dave Liebman“ lautet der Untertitel dieser eigentlichen Trio-Scheibe, und der Tenor- beziehungsweise Sopran-Saxofonist, der schon an der Seite der Riesengroßen (Miles Davis!) gespielt hat, prägt VEINs aktuelles Album teilweise deutlich – was nicht bedeutet, dass die drei Kernmusiker zu Zuarbeitern degradiert würden.
Möchte man sich als Jazzer heute noch mit Standards behaupten – und die Hälfte der trefflich live eingefangenen Stücke auf „Lemuria“ sind ebensolche –, darf man nicht bloß seinen Schuh herunterspielen; diesen Vorwurf lassen sich VEIN auch nicht machen. Dave Brubecks „In Your Own Sweet Way“ swingt zwar traditionell, doch Liebman geht sehr frei mit dem Hauptthema um, während sich Michael Arbenz trotz eines langen Spots zurückhält. Lähns hingegen setzt hinterher solistische Akzente mit fein platzierten Double-Stops.
Das lange Titelstück aus der Feder des Pianisten bietet extravagante Sax-Lines und ein Fundament aus dichten Klavierakkorden, entfaltet sich aber ausgehend von relativ stoischem Rhythmusspiel zu einem äußerst fahrigen Wirbelwind, der indes nie in Free-Gefilde übergeht. Dazu perlt das Tastenspiel hinter Liebmans Urschreien durchs Mundstück zu anmutig, und im zurückgenommenen Mittelteil kommt ein handfester Groove zum Tragen.
Zweimal Gershwin?, Ja, dem Komponisten sind VEIN spätestens seit „Plays Porgy & Bess“ verbunden, und auch während dieses 2011 aufgenommenen Konzerts galt es, den Altmeister würdevoll, aber eben nicht nach dem Lehrbuch zu interpretieren. Die Ballade „I Loves You Porgy“ wirkt im Vergleich zum vorher entfachten Feuer nachgerade minimalistisch, wobei die Musiker das bekannte Thema eben nicht plump ausspielen, sondern eher andeuten.
Das zweite Stück von Arbenz gilt zunächst erneut dem Bassisten, doch er bestellt nur den Boden für die expressionistischen Kaskaden, die daraufhin aus dem Klavierkorpus erklingen, nicht zu vergessen Bruder Florians hibbeliges Drumming, gekrönt von einem irren Solo.
Nach dieser Sendepause darf der Amerikaner mit einem eigenen Stück ran: Liebmans65 gediegenes „Climbing“ passt zur Vorbereitung auf das lang ausgewalzte „Summertime“, welches immer nur einstweilen erkennbar bleibt, jedoch weithin auseinandergenommen und aufs hörenswert Neue zusammengesetzt wurde – der grundlegende Gestus des Jazz, nicht wahr?
FAZIT: „Lemuria“ überrascht den Traditions-Hörer, der eine Halbe-halbe-Veranstaltung (artige Standards mit halbseidenen Eigenkompositionen) erwartet hat: VEIN dekonstruieren zwar nichts, legen beim Interpretieren des Fremden aber ungemein spritzige Einfälle vor, hinter denen der Gast fast verblasst und das eigentlich fantastische Handwerk nicht einmal im Fokus steht.
Punkte: 11/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 11.09.2012
Thomas Lähns
Michael Arbenz
Florian Arbenz
Dave Liebman (Saxofon)
Unit / Harmonia Mundi
65:17
14.09.2012