Den „vitruvianischen Menchen“ von Leonardo da Vinci kennt man, VITRUVIAN MAN aus Melbourne jedoch nicht. Zeit zum Nachholen, denn die Australier spielen eine frische, unprätentiöse Form von Progressive Rock und haben dieses kompositorisch zwingende, unheimlich warm klingende Konzeptalbum ganz allein gestemmt.
Eine so ungezwungene, so wenig selbstverliebte Themenscheibe hat man lange nicht gehört. Was das Quartett in seiner schlichten Besetzung geschrieben hat und zu Gehör bringt, klingt so locker aus der Hüfte geschossen und dennoch durchdacht wie die knackigen Alterswerke von RUSH, zumal Dan Swan einstweilen eine trauliche Fistelstimme bemüht, die wiederum dem jüngeren Geddy Lee alle Ehre macht. Gleichzeitig haben die Musiker einen Hang zu Metallischem (angenehm ruppig, die Darbietung) und manch neuer Spielformen ihrer Zunft, wobei bekanntermaßen die Alternative-Szene maßgebliche Impulse im Prog der 2000er gesetzt hat. Von Querkopf Omar Rodríguez-López würde man sich zum Beispiel einfühlsame und stimmige Stücke wünschen wie die auf „The Stranger Within“.
Gleich zu Beginn schlagen VITRUVIAN MAN mit zwei Hits ein, wobei sich „Nightmare In Her Hand“ wegen seines Refrains als abartiger Ohrwurm erweist. Die wiederholt hörbaren Bienenschwarm-Gitarren, etwa zu Beginn und gegen Ende von „As It Falls“, sind typisch für besagtes Indie-Prog-Gezappel, die außergewöhnlich nuancierte Rhythmusarbeit von Bass und Schlagzeug ohnehin für Qualitäts-Rockmusik.
Davon abgesehen beherrschen die Australier die Gefühlsklaviatur trefflich. „Leave This All Behind“ (Schreibmaschine, Hundegebell, Klavier) fungiert als verheißungsvolles Intro zum überlangen „Every Dog Will Have His Day“, das kernigen Strophen einen umso zarterer Refrain gegenüberstellt. Dabei intoniert Dan beinahe so mitreißend wie ein junger John Arch, und nach zwei Durchführungen legt sich die Gruppe virtuos ins Zeug. Der Gesang wird gedoppelt, doch am Ende fahren sie noch einmal ganz zurück in impressionistische Gefilde, als wollten sie SIEGES EVEN (Phase „Steps“ bis „Sense Of Change“) gedenken. Das folgende „Your Lucky Day“ erweist sich im Gegensatz dazu als überschaubarer Track mit ruhigen Strophen, die sich in Sachen Härte und Gesangstonhöhe steigern.
Das neunminütige „The Implements Of Hell“ wirkt zuerst unheilvoll, groovt dann aber hintersinnig. Wieder wenden VITRUVIAN MAN das Prinzip einmaliger Wiederholung der Grundstruktur an. Das Mantra „God told me to kill you“ untermalt man mit den härtesten Passagen der Scheibe, um daraufhin zu entspannen und ein harmonisches Ende zu finden, das den Beginn zitiert. Die Dynamik der Scheibe wurde dabei so geschickt inszeniert, dass die fast 50 Minuten im Flug vergangen sind, wobei dennoch eine Menge geschehen ist, vor allem im Kopf und Herzen des Hörers.
FAZIT: VITRUVIAN MAN stellen sich mit ihrem bärenstarken Melodieverständnis und schlichtweg packenden Songs – Prog in klassischer Rock-Besetzung – als einer der heißesten Newcomer auf ihrem Feld heraus – aufrichtig und aufrichtend … die Härchen auf den Armen.
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 16.06.2012
JP Glovasa
Dan Swan
Glenn Kirkwood
Greg Stone
Eigenvertrieb
48:19
02.12.2011