Wir Kritiker gelten, ähnlich wie die Musiker, mit denen wir es oft zu tun haben, als ein recht seltsames Völkchen. Oft sind wir so eine Art Vorkoster von CDs, die aus ihrer Sicht über die Genießbarkeit oder Ungenießbarkeit eines musikalischen Gerichts urteilen. Und da Geschmäcker bekanntlich sehr unterschiedlich sind, kann es dabei schon mal zu gehörigen Unstimmigkeiten kommen. Allerdings liegt unseren CDs meistens eine „Speisekarte“ bei, also eine Produktinformation des Vertriebslabels – auch Promo-Sheet oder Waschzettel genannt – auf der wir erfahren, mit was für Musik und mit welchen Musikern wir es auf der CD so zu tun haben. Oftmals gehen schon in diesem Moment die Geschmäcker auseinander. Manchmal aber bereitet einem diese Produktinformation im Vorfeld schon einen gewaltigen Vorgeschmack, der nicht nur Neugier auf ein Album, sondern auch eine rätselhafte Vorfreude darauf vermittelt. Im Falle von VLADIWOODSTOK ging's mir so wie hier beschrieben – und ich denke, auch der Leser dieser Kritik wird ein ähnliches Gefühl entwickeln, wenn er solch ironisch-neugierig machenden Zeilen liest:
„Den Sound von VLADIWOODSTOK beschreibt man wohl eher als Ompa Twang. Auch als 'Dirty-Harry-Polka' oder 'Zweiviertel im Gaunerviertel' bekannt. Ihre Songs reißen einfach mit.“
Zwar war ich nicht viel klüger, nachdem ich dies gelesen hatte – dafür aber verdammt neugierig. Allein der Bandname, offensichtlich ein Konglomerat aus Wladiwostok, Russlands wichtigste Hafenstadt, die sich zugleich durch eine extreme Umweltverschmutzung auszeichnet, und natürlich Woodstock, dem legendären amerikanischen Musikfestival, das seit 1969 als der Anfang der Hippie-Bewegung gilt und auf dem es ähnlich schmutzig bzw. schlammig zuging.
Zu Hafenstädten gehören bekanntlich auch Schifferklaviere bzw. Akkordeon, zu Rockfestivals E-Gitarren – im Grunde sind beide Instrumente die lebendige Antithese von musikalischer Vereinbarkeit. Oder hat jemand schon mal einen Rock-Shanty gehört? Oder bei „Klock 8, achtern Strom“ (Eine Musiksendung mit Seemansliedern aus der Rostocker Hafenbar, die regelmäßig im Fernsehen übertragen wurde.) E-Gitarren entdeckt?
Das passt nicht.
Kann nicht passen.
Darf nicht passen!
Genauso wenig wie man sich vorstellen kann, dass Wladiwostok und Woodstock irgendwann mal Partnerstädte werden.
Da braucht es schon ein paar Bayern, die mit ihrem Ompa Twang, einer musikalischen Kombination von Akkordeon und E-Gitarre samt Bass, Tuba, Pauken und Schlagzeug sowie ekstatischem Gesang, uns eines Besseren belehren. Hardcore-Polka aus der Lederhose, die jedes Dirndl spätestens bei „Finish Dynamite“ bis auf T(w)anga-Höhe wirbelt.
Auch Tango- und Walzer-Rhythmen gibt es jede Menge auf „Blockfish“ zu entdecken. Oder traurig-melancholische Stimmungen, wie in „Down In Vladiwoodstok“. Doch nicht nur das. Nein – es gibt noch mehr Überraschendes. Denn nach 2 Minuten 50 setzt in besagtem Titel für 30 Sekunden tatsächlich eine Gitarre ein, die DAVID GILMOUR hätte spielen können. Und mit „AK 47 Kaputt“ darf der Hörer sich nach einem Akkordeonvorspiel noch auf ein instrumentales Feuerwerk freuen, das locker auch die frühen Scheiben der POGUES hätte bereichern können.
Spätestens jetzt darf oder sollte ich unbedingt wieder zitieren: „Auf ihrem zwölf Song starken Debüt entsteht ein gewaltiger Melting Pot mit viel Dampf, bei dem ein automatisches Fußwippen nicht zu verhindern ist […] Hier prallen Musikanten aufeinander, mit und ohne Bildung, ehelich und unehelich, Pazifisten, Anarchisten, Tubisten, Paukisten, Gitarristen, Akkordeonisten und sogar Sänger.“
Bayrischer Humor trifft auf finnische Musik-Kultur mit russischen Wurzeln, um jedes noch so große Rockfestival aufzumischen. Wer's nicht glaubt, der höre „Blockfish“ und staune. Die POGUES sind Geschichte, VLADIWOODSTOK deren Fortsetzung mit einem Sänger, der bestimmt nicht böse über den Vergleich ist, dass man sich manchmal bei ihm stimmlich und von seiner Erscheinung her an TOM WAITS erinnert fühlt. Wer mir nicht glaubt, der schaue sich zum Beweis einfach mal diesen <a href=" http://www.youtube.com/watch?v=i0pzfwB549o&feature=player_embedded" rel="nofollow">Album Trailer</a> an!
FAZIT: „Saftig! Trocken! Schräg!“ Genau: Saftig! Trocken! Schräg! Ein Debüt-Album, das so klingt, als würden die Jungs von VLADIWOODSTOK schon seit 100 Jahren Musik machen. Leidenschaftlich! Professionell! Mitreißend! Ein Hochgenuss! Meint zumindest der musikalische Vorkoster dieser Seiten.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 31.08.2012
Mischa Beton
Vladi Iglu Hautawekk
Jakob Johann
Frank Friedbert
Rado (Akkordeon), Mischa Beton (Tuba)
Beste! Unterhaltung
42:54
31.08.2012