Die Fakten zuerst: Die Franzosen XII ALFONSO haben drei Jahre an diesem Werk gearbeitet, bringen 70 Instrumente und 50 verschiedene Musiker zu Gehör, liefern eine Dreifach CD mit 180 Minuten Musik im Buchformat mit 76 farbigen und vor Inhalt strotzenden Seiten ab – und haben alles allein finanziert. Ehre, wem Ehre gebührt.
Mit Konzeptalben hat das Kernquartett reichlich Erfahrung: „The Last Frontier“ beschäftigte sich 1996 mit dem Hadrian's Wall, die zweite Scheibe „Odyssées“ mit ebensolchen vielfältiger Natur, und schließlich widmete man gleich zwei Alben dem Maler Claude Monet. Ein in einer prähistorischen Tropfsteinhöhle eingespieltes Livealbum verweist thematisch schließlich auf das neue Mammutwerk mit dem selbstredenden Titel. Mickey Simmonds (CAMEL) spielte wie auf dem Debütalbum der Franzosen das Gros der Keyboards ein. John A. Helliwell von SUPERTRAMP bemühte sein Saxofon für zahlreiche Stücke, und im Booklet gibt es Erläuterndes zu den Instrumentals zu lesen, teilweise in Ich-Form, als spräche der Evolutionsbiologe selbst, dessen Leben XII ALFONSO vertont haben.
Die „Collection“-Teile (mal mit Gitarre, dann mit Glockenspiel oder Akkordeon beziehungsweise urban jazzig im siebten und neunten oder mit vietnamesischem Text im achten Part) bilden ein übergreifendes Leitmotiv zwischen den Stücken der drei Scheiben. Die erste, „„1809-1835“, handelt mit „Earliest Recollections“ Charles Darwins Kindheit ab und wird in intimem Ambiente von Maggie Reilly (sang Mike Oldfields „Moonlight Shadow“) dargeboten. „Stolen Fruits“ (mit Floyd- und Oldfield-Session-Klampfer Tim Renwick) entwickelt sich von einer sanften Gitarren-Impression zu einem unterschwellig brodelnden Tiegel mit orchestralen Passagen. Erstmalig tritt die für XII ALFONSO prägende Flöte in den Vordergrund. Folkloristisch geht es auch in „Physics And Hunting“ zu, inklusive Akkordeon und markantem Synthesizerspiel sowie der Gitarre von FISH-Klampfer Robin Boult.
Das durch Raphaël Ravenscrofts Saxofon leicht jazzig gewordene „Silent Battle“ singt Elliott Murphy, der den Text über den „struggle for life“ interessanterweise äußerst beschwingt darbietet. „The Bump Of Reverence“ geht ohne Vocals in eine ähnliche Richtung, wobei Francis Dunnery von IT BITES die Gitarre schmatzen lässt wie sein einstweiliger Arbeitgeber Carlos Santana, was schließlich eingedenk eines Saxofonsolos mediterranes Mainstream-Flair versprüht. Das Doppel „Leaving England“ ist der erste Höhepunkt von „Darwin“, intime Kammermusik mit Cello und der dunklen Stimme von Ronnie Caryl, der sein Talent ansonsten als Gitarrist von Phil Collins verschwendet. Beim Flöten-Akustikgitarren-Finale geht dem Hörer das Herz über, und Englands Küste verschwindet am Horizont. Nach dem findig arrangierten „The Letter From Henslow“ (Darwins Mentor), in dem die Melodieführung auf mehrere Instrumente verteilt wurde, setzt „HMS Beagle“ ein weiteres Ausrufezeichen. Alistair Gordon, der „Bankstatement“ von GENESIS' Tony Banks seine Stimme lieh, setzt die Aufbruchstimmung vorm In-See-Stechen in diesem heiteren Stück trefflich um.
Anders „The Captain Fitz-Roy“: Der Auftritt dieser letztlich tragischen Gestalt klingt bedrohlich und ob des Einsatzes der vietnamesischen Dan Bao beziehungsweise Sand Roman Garcias Stimme ein wenig orientalisch, was ein Titel wie „Straits Of Magellan“ (das zuletzt fertiggestellte Stück im Studio nach dem Tod von Komponist Moreno 2011) hinterher natürlich forcieren muss, und zwar teils orchestral, teils folkloristisch. „Tierra Del Fuego“ fungiert praktisch als Finale der ersten CD. In Zusammenarbeit mit Bandfreund Tito Correa und argentinischen Musikern um Julio Presas entstand hier eine südamerikanische Impression mit ergreifendem Gesangsduett, an das sich „Darwin's Finches“ als perfekte Ergänzung fügt. Zum Gesang der Vietnamesin Huong Thanh zwitschern die Vögel der Galapagos-Inseln, bevor die Instrumentalisten WEATHER REPORT überdeutlich Tribut zollen – aber nur ganz kurz, bevor „Homeward Bound“ mit schweißnassen Fingern warten lässt, bis der junge Protagonist um viele Erfahrungen reicher nach Hause zurückkehrt.
Das „1836-1858“ eröffnende, schlicht melodische Rockstück „So Many Years“ – wieder mit Gordon – ist inhaltlich eine ausdrucksvolle Hommage an Darwins Schaffen und die Erleuchtung, die der Wissenschaft durch ihn zuteilwurde. „Strange Fossil“ entführt stilistisch erneut auf die Südhalbkugel und nimmt nicht zuletzt dank des Cellos von Antoine Gramont Drone-artige, hypnotische Züge an, als werde man in die Urzeit zurückversetzt.
„Emma and Charles“ ist selbstredend ein Duett zwischen dem Paar (Amy Keys, Ronnie Caryl) und geht stilistisch als teils soulige Ballade mit Streichern und dezenten Percussion-Arrangements durch, die am Ende euphorische Züge annimmt – Gänsehaut garantiert. „The Coral Of Life“ verstärkt das rhythmische Element im Sound von XII ALFONSO zusätzlich, denn der südamerikanische Cast steuert hier nicht nur Gesang, sondern auch Regenstock und Muscheln (!) als Instrumente bei, was im Verbund mit der erdig aufspielenden Kernband Weltmusik im besten Sinn garantiert. In „The Island Of Devil’s Riding School“ reizt das Kollektiv dies bis ins Extreme aus: Krokodil- und Nilpferdzähne, Xylophon und und und …
Caryls „Down House“ schenkt „Darwin“ als Singer-Songwriter-Track eine weitere Facette und kündet auf vergleichsweise minimalistische Weise vom Heim des Hauptdarstellers. Das Songdoppel „Annie“ stellt abgründigen Chanson zur Schau: Gérard Lenorman drückt Darwins Schmerz über den Tod seiner Tochter auf ergreifende Weise in seiner französischen Muttersprache aus, derweil der zweite Teil den musikalischen Schwerpunkt von der Akustikgitarre auf ein vollständiges Band-Arrangement umlenkt. Diese sorgt auch im folgenden „Beloved Cirripedia“ für Ohrenschlackern: Die Lust des Entdeckers beim Untersuchen von Rankenfußkrebsen drückt sich in einer Art Cello-Rock mit klasse Schlagzeugarbeit aus, ehe einmal mehr die Flöte das Heft übernimmt.
„An Ordinary Day“ stellt wieder Sängerin Garcia ins Rampenlicht und ist ein dynamischer, auf Orgel ausgerichteter Popsong, der treffend einen schnöden Tag Darwins zu Hause beschreibt, wobei kommende Taten am Horizont angedeutet werden. Insgesamt bleibt die Stimmung jedoch malerisch, weshalb „Salting The Seeds“ umso krasser vor den Kopf stößt. Hier stehen elektronische Experimente und wiederum beeindruckendes Drumming im Vordergrund, um Darwins Saatgut-Studien zu umreißen. Gleichsam eigentümlich klingt „Lennie“, in dem es vor Kinderstimmen wimmelt, wozu im Begleitbuch ein Text von Darwins Sohn abgedruckt ist. Mit dem sachten „It’s Time To Write“, das FREEGH-Sänger Pierre Emberger mitgeschrieben hat und singt, wandeln XII ALFONSO wieder auf vertrauteren Pfaden.
Nach dem mit Drumcomputer und Schreibmaschine rhythmisierten „Missing Links“, ebenfalls einer kompositorischen Zusammenarbeit, diesmal mit Chanteuse Jayney Klimek, läutet man den letzten Lebensabschnitt des Naturforschers ein. „1859-1882“ startet mit „Bound Together“, das Gordon verschmitzt vorträgt, während die Band verhalten Varieté-Atmosphäre versprüht; Piano-Klimpern, Reggae-Rhythmik und Ocarina sorgen für schillernde, aber mitnichten geschmacklos grelle Klangfarben. Ähnlich gestaltet sich auch „Descent With Modification“, ein mystisches Instrumental auf der Grundlage der C-Dur-Tonleiter, das den versöhnlichen Gedanken an den all-einen Ursprung der Schöpfung aufgreift.
Statt daraufhin plump aus Darwins Schlüsselwerk „Über die Entstehung der Arten“ zu zitieren, lassen XII ALFONSO während „On The Origin Of Species“ Huong Thanh in ihrer Muttersprache singen, ohne den Text im Büchlein zu übersetzen. Das kurze „Controverse In Oxford“ kündigt die entrüstete Rezeption der Forschungsergebnisse mit Orgel und Glockenspiel an, „Slave Makers“ befasst sich ebenfalls rein instrumental mit der im Buch angesprochenen Veranlagung von Lebewesen, andere zu unterjochen, wobei ein Keyboard-Bläsersatz daran gemahnt, dass Darwin selbst der Gedanke an Sklaverei zuwider war. Der Hörer verlangt wieder nach etwas Griffigerem und erhält prompt den possierlichen Folker „L.U.C.A.“ („Last Human Common Ancestor“) mit französischem Gesang von Garcia und John Hackett an der Flöte. Der Text verweist auf die Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Primat.
„Sombre Thoughts“, das zweite Stück von Emberger, schneidet als verdrossene Akustikballade die Tragik an, welche der Auslöschung des Schwachen in der Natur innewohnt. Darwin hängt den betrübten Gedanken daran bei einem Spaziergang nach, was die Band entsprechend pastoral umsetzt. „Mysterious Illness“ (KAYAKs Ton Scherpenzeel am Synthesizer) lässt den kränkelnden Körper des Protagonisten nicht unerwähnt, der Zeit seines Lebens unter Magenkrankheiten und Schwindelanfällen litt, von seinen Depressionen ganz zu schweigen. Auch „The Copley Medal“ (Darwin erhielt diese hohe Auszeichnung, was dem Klerus nicht schmeckte) verbleibt rein instrumental als Flöten-Akustikgitarren-Duett mit Terry Oldfield. „Vision Of The Indian Mound“ mit einem zurückhaltenden Michael Manring am Bass und Ian Bairnson (unter anderem Kate Bush) an der Gitarre verleiht der Faszination für die Flora Ausdruck, die XII ALFONSO im dritten Kapitel der „Entstehung“ verortet haben. Stilistisch klingt das abermals gesangslose Stück im gegebenen Rahmen erstaunlich modern.
„The Descent Of Man“ markiert Embergers dritten Beitrag, diesmal gemeinsam mit Garcia, und behandelt „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“ sowie Darwins Hadern mit der Masse mit einem Hauch von Mark Knopfler in puncto Gitarrenarbeit. „Struggle For Existence“ lässt in anderthalb Minuten nach einleitendem, aufsteigendem Cello 96 Noten an- und wieder abklingen, bis nur noch D beziehungsweise C stehenbleiben, die Initialen des Protagonisten. Das Finale der letzten, sperrigsten CD und zugleich das Ende dieses Konzeptmonsters fällt noch einmal sehr angenehm aus: Emberger lässt „Charles Darwin's Burial“ auf einer positiven Note ausklingen, wobei er sich ähnlicher Stilmittel bedient wie zuvor: Mandoline und beschwingter Ryhthmus lassen ein wenig an BEATLES oder DIRE STRAITS denken.
Noch weiter ins Detail zu gehen, würde den ohnehin schon überspannten Rahmen dieser Besprechung sprengen. Zuletzt bleibt zu betonen, dass „Darwin“ kein anstrengendes Album geworden ist, sondern ein durchgängig stringentes Hörvergnügen mit sowohl für sich allein standhaften Songs als auch einem roten Faden, der die einzelnen Scheiben am Stück genießbar macht. Die Aufmachung sucht ihresgleichen, die Umsetzung ist nichts weniger als Major-würdig und hätte zu Hochzeiten des Prog nicht besser bewerkstelligt werden können. Die allesamt fabelhaften Musiker erstrahlen in einer hochdynamischen wie natürlich klingenden Produktion, und auch inhaltlich ist XII ALFONSO ein detailliertes Werk gelungen, das von echter Leidenschaft zeugt und über Casting-Veranstaltungen wie „Leonardo“ aus dem Hause Magna Carta Records lachen macht.
FAZIT. Pour l'amour de l'art!
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 16.05.2012
Philippe Claerhout, François Claerhout, Stéphane Ducassé, Thierry Moreno
Eigenvertrieb
180:45
27.04.2012