Meine Hündin ist ein kleines Musik-Phänomen!
Immer wenn ich in meinem Musik-Zimmer CDs zu besprechen habe und sie nach dem ersten Kopfhörer-Durchgang gerade meiner leistungsstarken Anlage in einer ganz bestimmten Lautstärke aussetze, dann erhebt sie sich vom Sofa, das zwischen den Boxen steht, verlässt den Raum und verdrückt sich auf ein anderes Plätzchen im Zimmer nebenan.
Doch dann gibt es da noch so eine Besonderheit. Fast immer, wenn ich mich mit Künstlern aus Skandinavien, ganz besonders aber Island oder Finnland, beschäftige, scheint Iffi, so der Name meiner amerikanischen Cocker-Spaniel-Hundedame, einem Phänomen ausgesetzt zu sein, welches mich permanent an ihrem geistigen Zustand zweifeln lässt. Sie vollzieht so eine Art Persönlichkeitsspaltung und hebt bei den ersten Tönen, die aus den großen Standboxen erklingen, ihr Köpfchen, zieht die Ohren hoch, lauscht kurz und bleibt, nach ein paar Sekunden Bedenkzeit, liegen.
Langsam, aber immer sicherer, beginne ich auch Iffi zu verstehen. Die Musik, die auf „Marlene“ von der Finnin AINO VENNA zum Besten gegeben wird, nimmt den Hörer sofort gefangen. Flucht unmöglich!
Außerdem hat „Marlene“ auch eine kleine Insel, ganz in der Nähe von Berlin, erobert, auf der ich mit zwei geliebten Menschen so viel Zeit wie nur möglich verbringe. So bekommt der Kritiker oft auch noch zusätzliche Anregungen, die er mit seinem kritischen Sachverstand oft übersieht oder -hört. Und als ich diese CD nichts ahnend in den Player schob, wurden mir beinahe Schläge angedroht, wenn ich sie wieder entfernen wollte und so wurde „Marlene“ völlig zurecht ein Insel-Dauerbrenner!
Bereits der „Waltz To Paris“ - Überrascht es wen, dass dies tatsächlich ein Walzer ist? - lässt den Hörer überrascht die Ohren spitzen. Dieses junge Mädchen auf dem Cover soll tatsächlich so eine wunderbar warme und raue Stimme haben, die diesen Pariser Walzer auch noch gleich komplett akzentfrei auf Englisch und Französisch singt. Und plötzlich macht der Album-Titel auch wirklich Sinn, denn „Marlene“ wurde nach Vennas Vorbild benannt: MARLENE DIETRICH! Und die AINO VENNA klingt auch so. Überall lächeln einen die wundervollsten Melodien an, die mal in einem Chanson, mal im Pop, mal im Rock oder Blues und sogar in düsterer Melancholie samt Weltuntergangsstimmung eingekleidet sind. Außerdem gibt es auch noch mit „Suzette“ den Sommerhit des Jahres 2012, der Radio Helsinki eroberte und das wildromantische Flair eines „Zigeunerliedes mit Klezmereinflüssen“ verbreitet.
„Trouble Of The World“ dagegen ist einer dieser dunklen, unglaublich intensiven Songs mit einem Gesang, der den Eindruck „NICO lebt!“ vermittelt. Ja, genau die NICO, die mit VELVET UNDERGROUND Geschichte schrieb.
„Marlene“ ist ein Album geworden, das so bunt wie das Leben und die Liebe ist, mal wunderschön, aber auch traurig oder sogar grausam klingen kann, wenn AINO VENNA auf „Marlene“ erkennt: „Nun will ich in der Liebe versinken, doch wo die Liebe fehlt, kann ich auch all die Verbrechen des Krieges entdecken. Es ist der Frieden, für den wir jetzt kämpfen müssen!“
Darum macht es auch wirklich Sinn, den letzten, mit fünf Minuten sogar längsten Song, „Kriegslied“ zu nennen und radikal mit denjenigen abzurechnen, die in den Krieg ziehen und ihre Liebe in der Heimat zurücklassen. Dazu Marschrhythmen und anklagenden Gesang, der in einem deprimierenden Inferno endet.
FAZIT: Ein Album, das von Himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt so etwa jede Spielart moderner und altmodischer Musik beherrscht. Eine Marlene Dietrich, da bin ich mir sicher, wäre auf diese musikalische Ehrbezeugung verdammt stolz gewesen.
Punkte: 14/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 15.05.2013
Erik Michelsen
Aino Venna
Aino Venna, Kaisu Koponen, Joonatan Kotila
Ville Pystynen, Jussi Markkanen
Petra Vehvilainen (Violine), Ylermi Rajamaa (Cello), Hannes Kaukoranta (French Horn)
Beste! Unterhaltung / Broken Silence
40:11
26.04.2013