Zurück

Reviews

Le Mur: Silentia Nova

Stil: Psychedelischer Faust trifft auf krautrockigen Mephisto

Cover: Le Mur: Silentia Nova

Herbei, herbei! Herein, herein!
Ihr schlotternden Lemuren,
Aus Bändern, Sehnen und Gebein
Geflickte Halbnaturen.

Na, aus welchem Werk wohl stammen diese Zeilen?
Garantiert nicht aus Brehms Tierleben, welches uns höchstens einen Halb- bzw. Feuchtnasenaffen beim Lemuren-Begriff verheißt.
Da müssen wir uns schon ganz tief ins Totenreich der Antike begeben, in dem die Lemuren Totengeister waren, welche keine passende Grabstelle fanden, weil sie einer Straftat wegen das Zeitliche gesegnet hatten.
Weit über 1.000 Jahre später verewigte dann ein gewisser Geheimrat Goethe, der auch mal beim Bestätigen eines Todesurteils gegen eine in ihrer Verzweiflung zur Kindsmörderin gewordenen Mutter nicht zimperlich war, nachdem er sein personifiziertes schlechtes Gewissen auf einen Wissenschaftler namens Faust, der mit dem Teufel einen Pakt schloss, ohne zu wissen, dass er im Grunde nur den Wetteinsatz zwischen Gott und dem Teufel darstellte, genau diese Lemuren in seinem Lebenswerk „Faust“. Im 5. Akt des zweiten Teils dieser Tragödie ruft Mephisto diese Todesboten, um Fausts Grablegung zu verwirklichen, weil der teuflische Depp zu blöde war, einen Konjunktiv in „Zum Augenblicke würd' ich sagen!“ vom Präsens zu unterscheiden. Das lehrt uns also, dass wir immer schön fleißig in der Schule unsere Grammatik büffeln müssen, um nicht so blöd wie der Teufel im Umgang mit der deutschen Sprache zu sein.
Ja, damit sind wir auch schon bei des Rätsels Lösung und den ersten vier Fersen, welche die Kritik zu „Silentia Nova“ von LE MUR eröffnen, angekommen.

Anno 2013 begleiten wir nunmehr drei Ruhrpötter, zwei Bochumer und eine Bochumerin, erneut in das Totenreich, diesmal aber in das musikalische. Und dieses besteht aus einer spannenden, beängstigenden, aber nicht abschreckenden oder tödlichen Mischung von Kraut- und Spacerock, die unsere Musik-LE MURen selbst mit dem Etikett „Heavy Dark Trip Rock mit Space- und Prog-Einflüssen“ versehen. Bereits nach dem ersten Hördurchgang von „Silentia Nova“ wird klar, wie passend dieser Begriff für die recht schwer zu deutende Musik gewählt ist, welche durchaus auch mal im tiefen Sumpf des Post-Rocks versinken und sich dann mit unglaublichen Saxofon-Kaskaden wie Phoenix aus der Asche erheben kann!

LE MUR ist eine Band, der es ganz offensichtlich auf die Qualität und Eigenständigkeit ankommt, ohne dass sie bewusst nach irgendwelchen Trends oder Mainstream-Modeerscheinungen schielt. Eine höchst ehrenwerte Eigenschaft, die ihnen leider bereits bei ihrem ersten Album „In Tebris“, das 2011 bei einem englischen Label erscheinen sollte, viel Ärger einbrachte und am Ende dort nicht erschien, sondern von den britischen Label-Lemuren beerdigt wurde. Bei Tribal Stomp aber scheint das Trio nun gut aufgehoben, denn sie schicken mit „Silentia Nova“ nicht etwa erst einmal nur eine CD an den Start, sondern zugleich auch eine auf 500 Stück limitierte LP in farbigem Vinyl und mit einem mehr als beachtenswerten Artwork, das den Betrachter sehr überzeugend auf die Musik, die ihm beim Auflegen der Schallplatte erwartet, einstimmt!

Das eröffnende „O.m.e.n.“ verbreitet anfänglich mit Becken-Klängen, verhaltener Gitarre und hintergründig brummenden Bass fast eine bedrohliche Stimmung, die sogar ein leichtes Jazz-Gefühl in sich trägt. Wenige Minuten später schon läuft der LE MUR-Motor aber hochtouriger, seltsame Synthi- und Elektronikspielereien sowie verfremdeter Gesang und wildes Geblubber geleiten uns ins Space-Rock-Universum des „Technical Progress And Other Suicide Stuff“, ein wirklich selbstmörderischer Song, dem am Ende die Orgel noch ihren Rest gibt.
Noch etwas verrückter geht’s weiter, denn nun taucht mitten auf der LP ein so genannter Hidden-Track auf, der nicht auf dem Cover gelistet ist, aber auf dem Promo-Beipackzettel als „Ghost Track II“ bezeichnet wird und endlich das gigantische Saxofon zum wirren Leben erweckt, das sich mit Orgel, Sprechgesang und wiederum einer Unmenge Sound-Effekten ein Stelldichein bietet. Jetzt, spätestens jetzt, spürt man die Atmosphäre, die uns Hörer gefangen nimmt, so als wären die Lemuren aus ihren Gräbern gekrochen und musizieren mit und auf ihren Gebeinen, um den gespenstischen Musik-Begleiter zu dem ebenso gespenstischen Bild, das dieses Farb-Vinyl umgibt, zu musikalischem Leben zu erwecken. Auch die Thematik des – man muss es wirklich so nennen – Konzeptalbums erhält so einen überzeugenden Sinn. Es geht im Grunde darum, dass wir immer mehr dem Technik-Wahn verfallen sind, der uns vielleicht am Ende sogar umbringt oder zum gläsernen Menschen werden lässt. Die NSA lässt eben grüßen, selbst wenn die ganzen Segel-Ohr-Obama-Bespitzelungsgeschichten zum Zeitpunkt der Entstehung des Albums von unserem heldenhaften Whistleblower Snowden in dieser Form noch gar nicht preisgegeben worden waren.

Wenn man nun aber die LP aufklappt und das Bild der drei Musiker sieht, will man seinen Augen nicht glauben. Diese so junge, fast wie eine Schülerin erscheinende JANINE FICKLSCHERER, der ebenso fast kindlich wirkende MATTHIAS GRÄF sowie GEORGIOS DOSIS, der in irgendwelchen verpeilten NSA-Kreisen sofort Anti-Terror-Alarm auslösen würde, spielen – nein zelebrieren – solchen space-krautrockigen Psychedelic-Sound, für den vor über 40 Jahren AMON DÜÜL oder HAWKWIND eine ganze Wohn- und Musik-Kommune benötigten?
Nicht zu glauben!?
Zum Glück aber trotzdem wahr!

Die B-Seite von „Silentia Nova“ steht dann der A-Seite in nichts nach! All die leckeren Zutaten der Krautrock-Suppe werden wieder geschickt zusammengerührt und zu einem schmackhaften Musik-Eintopf gekocht. Diesmal eröffnen ein Glockenspiel und eine sägende Gitarre den Musik-Reigen, dem sich finstere Gesänge anschließen, um dann in einem Wechselspiel aus hartem Rock und solistischen Bass-Linien das „Heavy“ besonders hervorzuheben, wobei einem manchmal der Gesang doch ein wenig auf die Nerven geht. Aber sei's drum – gerade wegen dieser unvollkommenen Momente wurden früher doch all die Krautrockergüsse geliebt. Und wenn dann „Silentia Nova“ auch noch wie eine Fortsetzung von PINK FLOYDs „Interstellar Overdrive“ klingt, dann sind wir doch insgeheim alle irgendwie, irgendwo, irgendwann glücklich, oder?
LE MUR wecken unsere Liebe zu Kraut, Space & Psyche wieder.
Mit unglaublich viel Leidenschaft und einer ganzen Menge musikalischem Können.
Vergesst Goethe!
Hoch lebe LE MUR!

FAZIT: „Silentia Nova“ ist der zweite Teil einer geplanten Heavy-Dark-Trip-Rock-Trilogie, die das Zeug zum modernen Krautrock-Klassiker hat. Eine psychedelische Weltraumreise von ein paar SHINY GNOMES, die völlig OUT OF FOCUS mit dem HAWKWIND im Rücken durch Raum und Zeit düsen.

PS: Meine Vinyl-Ausgabe trägt die von Hand beschriftete Nummer 167/500! Garantiert wird diese limitierte Ausgabe in naher oder ferner Zukunft für jeden Sammler einen hohen Wert erhalten. Wer sich diese Chance einer endlich mal wieder sicheren Wertanlage für die Ohren entgehen lässt, der ist selber schuld!

Punkte: 12/15

Erschienen auf www.musikreviews.de am 18.11.2013

Tracklist

  1. O.m.e.n. - A Decision Of Despair
  2. Technical Progress And Other Suicide Stuff
  3. Ghost Track II (Hidden Track)
  4. Die Nacht der Lemuren (Teil II)
  5. Sun
  6. Silentia Nova
  7. O.m.e.n. - Creation Of A New Silence

Besetzung

  • Bass

    Janine Ficklscherer

  • Gesang

    Matthias Gräf, Georgios Dosis

  • Gitarre

    Matthias Gräf

  • Keys

    Matthias Gräf

  • Schlagzeug

    Georgios Dosis

  • Sonstiges

    Janine Ficklscherer & Matthias Gräf (Sound Effects)

Sonstiges

  • Label

    Tribal Stomp Records / CARGO Records

  • Spieldauer

    42:12

  • Erscheinungsdatum

    09.11.2013

© Musikreviews.de