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Leprous: Coal

Stil: Progressive Rock / Metal

Cover: Leprous: Coal

Wann immer man eine bestimmte Gefühlsregung oder Motivation im Inneren verspürt, so ist das ein zutiefst privater Vorgang. Man trifft regelmäßig Bewertungen oder Einschätzungen von Umweltfaktoren, deren Auslöser für Andere unsichtbar sind, weil sie von innen kommen. So entsteht ein ganz persönliches Bild der Umwelt und ihrer Funktionsweisen. Beschreibt nun ein Außenstehender einen Teilabschnitt exakt eines solchen persönlich empfundenen Bildes, fühlt man sich auf dankbare Art und Weise verstanden und nicht mehr allein mit seinen Empfindungen. Einar Solberg, Stimme von LEPROUS, gelingt eine solche Beschreibung, als er darüber sinniert, wie man es schaffen kann, Druck in Kreativität umzuwandeln: Gerade, wenn man keine Zeit habe, das eigene Schaffen ausreichend zu reflektieren, könne man reine Kunst in Form ungefilterten Ausdrucks hervorbringen. Die Spontaneität des Gedrängten führe dazu, dass er sein Innerstes auf direktem Wege zum Vorschein brächte. Ohne Umwege, ohne Bullshit.

Diese Worte verraten zum einen viel über „Bilateral“, das vogelwilde, kantenreiche Vorgängerwerk, das offenbar tiefe Nachwirkungen auf die Band ausgeübt hat. Zum anderen liefern sie eine hervorragende Beschreibung für das Nachfolgewerk „Coal“, das sich in seiner ganzen Anlage zwar einerseits „Bilateral“ verpflichtet fühlt, weil es seine Markenzeichen wiederholt und die Unberechenbarkeit zum System macht, andererseits in seiner Stimmung aber so erschreckend anders ist; eine Erkenntnis, die wächst, je öfter man den neuen Silberling rotieren lässt.

Solbergs Stimme ist zunächst einmal einfach zu episch, um nicht automatisch das Déjà-Vu-O-Meter ausschlagen zu lassen – na klar ist das LEPROUS, da singt doch wieder einer in drei Oktaven binnen fünf Sekunden! Da werden hardrockige Allüren von Polymetren überrollt, klassische Disziplinen auf packende Weise modernisiert und Erwartungen gebrochen wie Herzen in einer Schnulze! Da werden Breaks mit dem schnellen Wechsel von Ruhephasen und hochfrequentem Stakkato-Picking überbetont! Da wird Power zelebriert, wie sie der gemeine Prog nie wirklich gekannt hat!

Die Verwandlung des Bekannten beginnt dann damit, dass man sich an das Überteil „Forced Entry“ erinnert und den Gänsepelle-Klimax in Gedanken nochmals nacherlebt, um auf „Coal“ nach einer ähnlichen Sinneserfahrung zu suchen – und obwohl Solberg sich keineswegs zügelt, er seine gesamte Bandbreite schon auf „Foe“ mit Zwerchfell und Deko in die Waagschale legt, bleibt das Auffinden eines äquivalenten Glassprengers in Rockstarpose aus. Die spielerische Unbekümmertheit, die zum Blast Off führte, ist dahin.

Im zweiten Durchlauf geht der Blick vor allem zu Titel Nummer 6. „The Cloak“ ist eine arg zurückgenommene Downtemponummer, in der Soberg mit AOR-Flair einen schmelzenden Kopfstimmenrefrain vorträgt, wobei ihn dezente Bohren-Chöre und tiefe Gitarren begleiten. Auch „The Valley“ stoppt die sich dabei ausbreitende Melancholie nicht. Das bassige Math-Riffing im Mittelteil ändert daran herzlich wenig, im Gegenteil, es erzeugt eine traurige Monotonie und untermauert damit, wie reduziert LEPROUS im Gegensatz zum vollgepackten „Bilateral“ die Hintergrundflächen halten.

Auch wegen „Salt“ und „Echo“ kristallisiert sich bald heraus, dass „Coal“ mit dem sogenannten „New Art Rock“ mehr gemeinsam hat als mit dem Black und Progressive Metal, aus dem LEPROUS eigentlich stammen. Die Kunst an der Geschichte ist aber nicht ebendieser Wandel, der manche Band schon in die Bedeutungslosigkeit hat fallen lassen, sondern der Umstand, dass es den Norwegern gelingt, die charakteristische Dynamik trotz der reduzierten Mittel beizubehalten. Langwierigkeit oder gar Langeweile lassen sich selbst dann nicht ausmachen, wenn minutenlang auf einem einzigen Motiv herumgeritten wird. Der finale Longtrack „Contaminate Me“ mit Solbergs Schwager Ihsahn (EMPEROR) sorgt für das letzte große Ausrufezeichen, ein blutiges Gemetzel im Vergleich zum Rest, und dennoch nicht unbedingt energetischer. Das alleine stellt bereits unter Beweis, welche Spannungen auch in den zurückgenommenen Kompositionen liegen.

FAZIT: So hätten die Alben der Dichter-und-Träumer-Institution DEMIANS aussehen können, wenn viiiel mehr Mut im Spiel gewesen wäre. LEPROUS ihrerseits zäumen das Pferd von der anderen Seite auf und nehmen den Faktor „What The Fuck“ im Vergleich zu „Bilateral“ zugunsten einer melancholischen Schwermut zurück, ohne dabei auch nur einen Funken an Intensität einzubüßen. Was dabei zum Vorschein kommt, ist wie eh und je majestätisch, intensiv, virtuos und imposant, aber diesmal auch nachdenklich und düster, beim gleichzeitigen Verlust des Wilden, das mit „Bilateral“ einherging.

"Coal" erscheint als Standard-CD sowie als Doppel-LP und Limited Edition CD im Digibook, letztere jeweils mit zwei Bonustracks ("Bury" und ein Remix von "Foe").

Punkte: 13/15

Erschienen auf www.musikreviews.de am 12.05.2013

Tracklist

  1. Foe
  2. Chronic
  3. Coal
  4. The Cloak
  5. The Valley
  6. Salt
  7. Echo
  8. Contaminate Me

Besetzung

  • Bass

    Rein Blomquist

  • Gesang

    Einar Solberg

  • Gitarre

    Tor Oddmund Suhrke, Øystein Landsverk

  • Keys

    Einar Solberg

  • Schlagzeug

    Tobias Ørnes Andersen

Sonstiges

  • Label

    InsideOut

  • Spieldauer

    55:50

  • Erscheinungsdatum

    17.05.2013

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