Die Voraussetzungen sind andere als noch 2002, im Entstehungsjahr von „Reanimation“. Das erste Remix-Album von LINKIN PARK hatte lediglich ein Album als Grundlage, das vollständig im Rock verwurzelte Nu-Metal-Urgestein „Hybrid Theory“. Da die Kalifornier schon so früh ihre Affinität zur elektronischen Musik auslebten, verwundert die anschließend ausgelebte Tendenz dahingehend weniger, wohl aber der Grad der stilistischen Verfremdung, welcher sich das Quintett mit den Jahren aussetzte. Die Resultate dessen mag man originell nennen, einzigartig womöglich, man könnte aber auch sagen, da hat sich jemand komplett verlaufen und Millionen von Lemmingen sind jeden Irrweg blind gefolgt, ohne etwas zu hinterfragen.
Der bizarre Elektro-Zuckerwatte-Experimental-Weichrock von „Living Things“ ist also schon ein ganz anderer Grundteig als „Hybrid Theory“. Ein ohnehin eher elektronisches als rockiges Album elektronisch neu zu interpretieren bedeutet in diesem Fall die Eröffnung eines Gruselkabinetts elektronischer Auswüchse von sensationellen Ausmaßen. „Recharged“ ist eine außer Kontrolle geratene Steckdosen-Mutation, deren Cyber-Erscheinung in ihrer Penetranz schädigend für die Sinne ist: Weder LP-Fans noch Gelegenheitshörer, Remix-Liebhaber oder echte Anhänger des elektronischen Fachs dürften sich von der Mischung angesprochen fühlen, denn jede Zielgruppe wird von einem oder mehreren Faktoren in einem Großteil der 14 Remixversuche und 68 Krachminuten extrem abgeturnt.
Den Reigen eröffnen darf „A Light That Never Comes“, die einzige Neukreation im Repertoire. Die Kollaboration mit Event-DJ Steve Aoki verströmt auf Anhieb das Gefühl, man habe es hier bereits mit dem Remix eines in Wirklichkeit gar nicht existierenden Phantomsongs zu tun, weil Chester Bennington den für die Band so typischen Refrain akzentuiert von Pianotupfern vollkommen unberührt von Aokis Electro-House-Galoppiere schmachtet, so als sei beides zu vollkommen unterschiedlichen Zeitpunkten entstanden. Faszinierend, dass Mike Shinoda zu dem Stück ausgerechnet bemerkt: „The coolest part about the song is it was really organic in how it came together“. Wo das?
Faszinierend auch, dass noch auf dem gleichen Album ein „Reboot“ des gerade erst entstandenen Songs zu finden ist. Eine Hommage an den Erneuerungswahn der aktuellen Kinolandschaft? In jedem Fall darf der Produzent höchstpersönlich im Rausschmeißer die Kohlen aus dem Feuer holen und als strahlender Ritter in glänzender Rüstung in Erscheinung treten: Rick Rubins Version von „A Light That Never Comes“ macht zwar nicht so viel Tohuwabohu wie das „Original“ (welch Schande, es so nennen zu müssen), zeugt mit dem relaxten Lounge-Feeling aber von etwas mehr Klasse.
Darüber hinaus zeichnet sich maßloses Wildern in Drum’n’Bass, Dubstep, House- und Clubsounds ab, bei dem die Gäste vor allem darauf bedacht sind, ihre nicht immer allzu hellen Lichter aus dem Scheffel zu nehmen, was zu Lasten der Hörbarkeit des Ganzen geht. Ein exemplarischer der vielen No-Go-Momente ist der Wechsel vom hochfrequenten „I’ll Be Gone“ zum downgepitchten „Lies Greed Misery“ – das ist kategorisch so unvereinbar wie orangegrün karierte Wohnzimmertapete.
Und Dubstep? Na klar gibt es Dubstep. KORN hatten Dubstep, sogar MUSE hatten Dubstep, jetzt haben auch LINKIN PARK Dubstep und wir warten freudig erregt auf LIMP BIZKITs „Stampede Of The Disco Elephants“. „Lost In The Echo“ mit seiner prinzipiell schönen Gesangslinie wuppt, knistert und poltert wie eine Festtagsrakete unter dem Putzeimer. Ein Schelm, wer da an „Narcissistic Cannibal“ denken muss.
Mike Shinoda versucht sich auf „Victimized“ anschließend im Drum’n’Bass / Digi-Hardcore-Fach und liefert unter Verwendung von Benningtons Schreistimme Extreme, wie man sie von LINKIN PARK eigentlich nicht gewohnt ist. Damit trägt er seines dazu bei, dass „Recharged“ sich vor allem im Härtegrad vom blütenzarten „Living Things“ zu unterscheiden versucht.
Während sich im Mittelteil Trash-Amusement und Langweiligkeit abwechseln, gibt es kurz vor Ladenschluss immerhin noch ein, zwei unerwartete Momente zu entdecken, etwa bei MONEY MARKs „Until It Breaks“, das nicht nur eine partielle Gitarre an Bord hat, sondern auch Synthesizer-Effekte, die an Südstaaten-Country denken lassen – im hypermodernen Albumkontext ein unerwarteter Retro-Moment, den man gerne annimmt, denn zur Not frisst der Teufel Fliegen.
FAZIT: Zugegeben, LINKIN PARK haben auf diesen Seiten sicherlich auch nicht gerade Heimrecht, womit diese Kritik eher als externe Sichtweise akzeptiert denn als Ratgeber verwendet werden sollte; dennoch ist zu bezweifeln, dass „Recharged“ irgendwem einen Mehrwert im CD-Regal (oder auch nur auf dem iPod) bescheren wird. Richtige EDM-Liebhaber werden ob der selbstdarstellerischen Beiträge der meisten Gäste müde lächeln und sich wieder ihrer KRAFTWERK-Sammlung widmen, das Partyvolk wird kurz innehalten, Spaß haben (oder sich lustig machen) und dann weiterziehen, über den Fan-Köpfen werden die Fragezeichen gehisst und nur die Lemminge laufen tapfer weiter, bis sie irgendwann erkennen: Der Korpus ihrer Götter wird immer mehr zur Hülse.
Punkte: 3/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 16.11.2013
David Farrell
Chester Bennington, Mike Shinoda
Brad Delson
Mike Shinoda
Rob Bourdon
Joseph Hahn, Steve Aoki, Mike Shinoda, Killsonik, Vice feat. Pusha T, Dirtyphonics, Rad Omen feat. Bun B, Enferno, Tom Swoon, Datsik, Nick Catchdubs feat. Cody B. Ware and Ryu, Schoolboy, Money Mark, Rick Rubin (DJ)
Warner Bros. Records
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25.10.2013