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Long Distance Calling: The Flood Inside

Stil: Rock

Cover: Long Distance Calling: The Flood Inside

To Sing Or Not To Sing? Nicht selten wird das Postrocksein von dieser Frage abhängig gemacht. Fälschlicherweise, wie LONG DISTANCE CALLING mit ihrer Selbstbetitelten jüngst bewiesen: Die Einladungen von Peter Dolving, Jonas Renkse und John Bush ans Mikrofon waren immer als Running Gags zu verstehen, die „Satellite Bay“ und „Avoid The Light“ frische Tupfer verleihen mochten, doch „Long Distance Calling“ mit Bush spätestens verabschiedete sich ohnehin von seinem luftigen Platz am Schubladenrand und wagte den Sprung ins kalte Wasser jenseits des großen Postrock-Meers, ganz ohne den instrumentellen Charakter aufgeben zu müssen. Seither sind LONG DISTANCE CALLING einfach eine Rockband, denen es freisteht, selbst über den zukünftigen Werdegang zu entscheiden.

Was machen die Münsteraner nun mit der neu gewonnenen Freiheit? Sie schreiben Songs, die ihrem Empfinden nach eines Sängers bedürfen. Dass der neue Instrumentalist im Boot für den vierten Streich namens „The Flood Inside“ gleich noch Stimmbänder mitbringt, hat man auf ähnliche Art und Weise kürzlich bereits bei KARCIUS mit einem singenden Bassisten erleben dürfen – mit zwiespältigem Ergebnis. Für LONG DISTANCE CALLING hat die eigentliche Metamorphose aber bereits mit dem Vorgängerwerk stattgefunden, die Anteilverlagerung des Gesangs ist nur noch ein Baustein im Gefüge.

Erfreulicherweise wird das Album nur in Teilen von Martin Fischer begleitet, nicht also sofort obligatorisch gemacht. Auf „Inside The Flood“ tritt er erstmals in Erscheinung, als Rockstarimitat, als jemand, dem die Art des Vortrags ebenso wichtig ist wie der Vortrag selbst. Das Imitierende scheint dabei ein bewusster Vorgang zu sein, wenn schon nicht durch Fischer selbst, dann durch die Abmischung, die ihn hinter die Gitarren und vor allem das Schlagzeug treten lässt, so als sei jede Pose, jede kraftvoll geschwungene Silbe nur eine Illusion im Nebel.

Ob „Inside The Flood“, „Tell The End“, “Welcome Change” (mit ANATHEMAs Vincent Cavanagh) und “The Man Within” nun vom Gesang profitieren, sei mal dahingestellt; man kann sich jedenfalls des Eindrucks nicht erwehren, dass auch diese Stücke ganz ohne mindestens genauso gut, wenn nicht besser funktioniert hätten. Jedoch behauptet das Album auch einen Paradigmenwechsel in der Definition von Rockmusik: Es greift konzeptionell klassische Rocksongs auf, in denen Janosch Rathmer am Schlagzeug gemeinsam mit Bassist Jan Hoffmann den Drive besorgt, die aber nicht im konventionellen Sinne „kicken“, denn die klassischen Statussymbole, das Riff und die Rockröhre, genießen eine erstaunlich geringe Priorität dafür, dass LONG DISTANCE CALLING endgültig die trägen Wasser des langwierigen Spannungsaufbaus verlassen haben.

Heuer gehören regelmäßige Tribal-Einlagen dazu und gleich im Opener „Nucleus“ auch ein dickes Bluesgitarrensolo, das die maschinelle Headbangbewegung mit gefährlichen Schnörkeln aus dem Rhythmus bringt. „Ductus“ eröffnet mit einem Twin-Peaks-Zitat, das sich auf den metaphysischen Albumtitel übertragen lässt – ein Stilbruch zur Mitte lässt dann auch wie durch einen herausgezogenen Stöpsel das Konventionelle aus dem Song laufen. Nachgegossen wird mit unerwarteten Jungle/Orient-Beats. Selbige kehren streckenweise in „Welcome Change“ zurück, einem nicht zuletzt dank Cavanagh sehr geisterhaften, unwirklichen Beitrag, gefolgt von weiteren „Waves“, die endgültig ihre Form verlieren, als das Wasser in den Sand sickert. Doch wären die Muster der Natur nicht so vertraut, würden sie nicht endlos wiederkehren – „The Man Within“ lässt die Gitarren nach „Inside The Flood“ wieder brutzeln und baut einen erneuten Brecher auf, der als „Breaker“ in heftigen Wechselschauern endlich niederregnet. Letztmalig – zumindest für dieses Album.

So behauptet „The Flood Inside“ möglicherweise die Fragilität menschlichen Schaffens im Angesicht der Gezeiten, vielleicht auch eine Art Hilf- und Orientierungslosigkeit des menschlichen Geistes gegenüber dem großen Ganzen. So gesehen bleiben LONG DISTANCE CALLING ihrer Herkunft treu, allerdings finden sie endlich andere Mittel und Wege der Darstellung als die Konkurrenz, die nimmermüde die Abstinenz der Kunst (im Sinne menschlichen Schaffens) behauptet, um sich an der Unberührtheit der Natur zu delektieren – eine Disziplin, die spätestens THE OCEAN mit „Precambrian“ paradoxerweise zur Kunst erklärt haben. LONG DISTANCE CALLING sind inzwischen soweit, sich dazu zu bekennen, dass sie selbst in Fleisch und Blut existieren. Solange sie nur alles auf einer bedeutungsvolleren Ebene zerbrechen, erlauben sie sich hiermit den Luxus, dem Drang nach Selbstverwirklichung nachzugehen, endlich nicht mehr hinter den Signalen zurückzustehen, die sie aussenden.

Der Haken an der Sache ist ein vergleichsweise banaler: Die Platte rockt einfach nicht. Trotz des delikaten Schlagzeugs, trotz des hintersinnigen und mitunter doppelbödigen Aufbaus, trotz des Wissens um die Qualität und trotz des Bewusstseins, dass hier etwas Besonderes vorzugehen scheint, das selbst das Feuilleton hellhörig macht - Im gleichen Maße, in dem man sich aus der dunklen Höhle traut, verliert das Klangergebnis an Nachdruck. Es gelingt einfach nicht im gleichen Maße wie beispielsweise bei BARONESS und deren Geniestreich „Yellow & Green“, sich aus der eigenen Genre-Gefangenschaft zu befreien und sogleich ein neues Imperium aufzubauen. Oder blicken wir gar nicht erst so tief in die Ferne: Es gelingt auch nicht so gut wie 2011 auf „Long Distance Calling“, wo all dies schon besser gelöst wurde, gleich beim ersten Versuch.

FAZIT: Dennoch bleibt der Lösungsansatz der richtige: Fernbleiben vom Postrock-Einheitsbrei, gerade in diesem endlos wirkenden Gebiet nach neuen Pfaden suchen, eine eigene Identität erfinden. Den Willen dazu bringt „The Flood Inside“ ebenso wie sein Vorgänger zweifellos mit. Womöglich mag man das auch schon „Meisterwerk“ schimpfen, wenn man denn unbedingt möchte, oder man übt ganz im Gegenteil den Vorwurf der Blutarmut; die Wahrheit ist wohl mal wieder irgendwo in der Mitte anzutreffen.

Punkte: 10/15

Erschienen auf www.musikreviews.de am 04.03.2013

Tracklist

  1. Nucleus
  2. Inside The Flood
  3. Ductus
  4. Tell The End
  5. Welcome Change
  6. Waves
  7. The Man Within
  8. Breaker

Besetzung

  • Bass

    Jan Hoffmann

  • Gesang

    Martin "Marsen" Fischer

  • Gitarre

    David Jordan, Florian Füntmann

  • Keys

    Martin "Marsen" Fischer

  • Schlagzeug

    Janosch Rathmer

Sonstiges

  • Label

    Superball Music

  • Spieldauer

    55:25

  • Erscheinungsdatum

    01.03.2013

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