Claudio Milano singt, keucht, schreit, flüstert wieder; man möchte es Gesangsakrobatik nennen, wenn dem nicht dieser zweifelhafte Ruf bloßer „Artistik“ anhängen würde. Milano benutzt seine Stimme als gleichwertiges Instrument, er erzeugt und prägt Stimmungen, Inhalte. Musikalisch ist dies, trotz einer ellenlangen Besetzungsliste, gespickt mit illustren Namen (insbesondere beim InSonar-Projekt), von geradezu asketischer Präzision. Oft reichen Harfe, ein paar perkussive Elemente und Milanos Stimme, um Stücke gekonnt zu vollenden.
„Bath Salts“ ist eine Doppel-CD und nur eine Hälfte eines aus vier CDs bestehenden Pakets, dass sich NICHELODEON mit INSONARs „L’enfant et le Ménure“ teilen. Wobei Namen hier tatsächlich Schall und Rauch sind, steckt doch federführend Claudio Milano hinter beiden Bands/Projekten.
Zunächst also „Bath Salts“, das keineswegs ein Badezusatz ist, sondern eine Umschreibung für (chemische) Designer-Drogen, deren Aussehen Badesalz ähnelt. Wer es nach den ersten Zeilen nicht bereits vermutet hat, es ist keine leichte Kost, die Milano auftischt. Weder musikalisch noch textlich.
Dabei ist Part I, übersetzt „Von der Liebe und der Leere“ das Zugänglichste, was NICHELODEON bisher geschaffen haben. Der zweite Teil „Kriege und Wiedergeburt“ wird schon anstrengender, kulminiert in seinen heftigsten Momenten fast zum expressionistischen wie expressiven Hörspiel. Glücklicherweise stehen die Texte auf Englisch - mit Erläuterungen – im Netz zur Verfügung.
Zärtlich, intim, teilweise flüsterleise und mit der Harfe als prägendem Instrument widmen sich NICHELODEON vielförmig und eindringlich den folgenreichen Prägungen unserer Innen- und Außenwelt. Fukushima, politische und religiöse Konflikte wie die Verlorenheit des Individuums in einer erdrückenden Umgebung, die Sehnsucht nach Liebe und die ewige Angst vor Zurückweisung oder wie Milano seine nachtschwarze, bohrend markerschütternde Interpretation des PETER HAMMILL-Klassikers „(This Side of) The Looking Glass“ selbst charmant umschreibt: „the idea of a person completely lost in a Spiegelsaal“. Die Umsetzung dieser Idee ist ihm hervorragend gelungen.
Daneben gelingen NICHELODEON noch eigenwillige wie treffende Versionen von Brecht/Weills „Surabaya Johnny“ und „Johnny dei Pirati“, hierzulande besser bekannt als die „Ballade der Seeräuber-Jenny“ aus der Dreigroschenoper. Die Coversongs und das eigene Material funktionieren höchst kohärent.
FAZIT: „Bath Salts“ ist NICHELODEONs bisheriges Meisterstück. Gerade die erste CD eignet sich für Einsteiger in Claudio Milanos höchst komplexes musikalisches Universum, in dem sich der späte SCOTT WALKER sehr wohlfühlen dürfte. Wer hier aussteigt, wird auch mit den vorigen NICHELODEON-Werken nicht warm werden. Wer sich darauf einlässt, begibt sich in ein höchst abwechslungsreiches, verschlungenes Labyrinth aus Tönen und Klängen; Musik, die den Hörer fordert, aber dafür Emotionen en masse, Tragik, Komödienhaftes, ein hohes Maß an (An)spannung und mögliche Blicke ins eigene Sein und das der anderen (Stichwort: Hölle) zurückgibt.
Gekrönt wird das ambitionierte musikalische Geschehen durch ein schmuckes Booklet, voller zu enträtselnder oder nur genüsslich anzuschauender Zeichnungen. Ist nur Kunst, Baby. Tut nicht weh. Oder doch?
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 08.11.2013
Alessandro Parilli; Max Pierini
Claudio Milano, Anna Caniglia, Laura Catrani, Giorgio Tiboni, Paolo Carelli
Lorenzo Sempio, Michel Delville, Fabrizio Modonese Palumbo
Claudio Milano, Marco Confalonieri
Pierangelo PANdiscia, Walter Calloni, Alessandro Parilli, Lorenzo Sempio, Andrea Quattrini
Claudio Milano, Raoul Moretti (harp), Pierangelo PANdiscia, Vincenzo Zitello, Fabrizio Modonese Palumbo, Sebastiano De Gennaro, Luca Pissavini, Massimo Falascone, Valerio Cosi, Andrea Breviglieri, Stefano Delle Monache, Andrea Murada, Paolo Tofani, Francesco Chiapperini, Elio Martusciello, Fabrizio Carriero
Lizard Records
CD1: 55:07/CD2: 51:39
01.11.2013