Das Interesse an KISS wird wohl niemals versiegen, aber wer sich nicht mit dem Konsens beziehungsweise der bereinigten Mär aus offiziellen Quellen abspeisen lassen möchte, griff schon zu Ace Frehleys Abrechnung mit seinen Ex-Kollegen und tut es nun wieder, da Peter Criss ebenfalls ziemlichen Klartext spricht - wenngleich unter Vorbehalt, da der Schlagzeuger zu Übertreibungen neigt, wie er selbst gesteht.
"My Life In And Out Of Kiss", wie das Buch im Original heißt, erweist sich im Vergleich zu Starchilds "No Regrets" als stärkere Schwarte, was vielleicht auch daran liegt, dass Criss den gebrochenen Charakter der Band nicht nur darstellte, sondern tatsächlich auch war, zumal er sich nie als zwanghaft unverbesserlicher Rock 'n' Roller gesehen hat wie Ace; seine Wurzeln liegen, so man sich beispielsweise seine Solo-Versuche, die CHELSEA-Scheibe und "Beth" anhört, auf das er gerne und unfairerweise beschränkt wird, am poppigen Rand oder im Soul, und dass er bei Jazz-Legende Gene Krupa Unterricht genoss, macht ihn zwar nicht zum herausragenden Schlagzeuger, aber der nüchterne Blick mit gesundem Abstand, den er im Buch auf seine Vergangenheit wirft, dürfte sich vor diesem Hintergrund besser verstehen lassen.
Criss stammt aus bescheidenen Familienverhältnissen, geriet in Straßengangs und musste sich zuerst von sadistische Lehrerinnen sowie später auch seinen Mitmusikern drangsalieren lassen. Seine Schilderungen zu Stanley und Simmons, den unumstößlichen Herrschern bei KISS, decken sich mehr oder weniger mit jenen von Frehley, und der Ton wechselt dabei mitunter vom Giftigen ins Wehmütige, wodurch sich ein spannender Lesefluss ergibt. Dies liegt eventuell auch daran, dass Co-Autor Larry Sloman schmissiger schreibt als John Ostrosky, der Aces Biografie auf die Sprünge half. Letztlich hat Criss aber vielleicht auch einfach mehr Interessantes zu bieten als die gleichwohl nicht ausgesparte Dekadenz der Protagonisten.
Wie immer bei Iron Pages gibt es eine sehenswerte Fotostrecke, diesmal im hochwertigen Hardcover. Die Übersetzung von Andreas Diesel, der unter anderem auch durch das Neofolk-Standardwerk "Looking For Europe" bekannt sein dürfte, gefällt sehr gut und zeugt von Erfahrung mit dem Sujet, was bekanntermaßen gerade im Bereich der Nischen- beziehungsweise Musikliteratur ungemein wichtig ist. Ergo: Kaufen.
FAZIT: "Ungeschminkt" ist trotz des reißerischen Titels die tiefer schürfende Biografie eines ambivalenten Musikers wie Menschen - Grundlage für alle guten Memoiren - und wurde vom deutschen Verlag in bestmöglicher Form umgesetzt. KISS-Freunde und generell an Rückblicken mehr oder minder interessanter Persönlichkeiten erleben hiermit kurzweilige Lesestunden.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 29.05.2013
Iron Pages
352 Seiten
17.05.2013