Zwanzig Jahre im Musikgeschäft, sechzehn Alben aufgenommen, Live überaus präsent, ob Solo, mit Band oder in jüngster Zeit mit Orchesterbegleitung: RAY WILSON ist ein rühriger Künstler. Doch trotz 15-Minuten enormer Medienpräsenz („Inside“, mit STILTSKIN eingespielt, 1994 Erkennungsmelodie der Levis 501-Jeans) und seiner aktiven Beteiligung an der letzten Phase von GENESIS (vor der Schmalspur-Live-Reunion 2006, die ohne ihn stattfand), ist er ein Geheimtipp geblieben, der Clubs ohne Mühe füllt, in Stadien aber eher verloren wirken dürfte. An seiner Präsenz und der Eingängigkeit seiner Musik dürfte es nicht liegen.
Oder sollte der Art-Pop, den RAY WILSON auf „Chasing Rainbows“ mit großem Atem präsentiert, schon zu komplex für größere Zuhörergruppen sein? Progressive Rock kann man es kaum nennen, denn auch wenn WILSON gerne und viel als GENESIS-Nachlassverwalter unterwegs war und ist, präsentiert er auch dort seine Vorstellung einer Band, die im weiten Pop Kosmos Platz und Bestand findet. Im besten Fall als so andächtig wie inbrünstig produzierte Oden an große Gefühle, schlimmstenfalls als banale Hintergrundmusik, die das Bügeln auch nicht spannender werden lässt.
„Chasing Rainbows“ macht vieles richtig. Die von WILSON und seinem Co-Autor Peter Hoff (mit Ausnahme von „Whatever Happened“) geschriebenen Songs sind griffig, spielen geschickt mit Sehnsucht und Aufbegehren. Die Produktion lässt sich gut hören und Yogi Langs – the artist known as L from RPWL - Mix ist konzentriert und opulent, ohne je überladen zu wirken. Selten jedenfalls. Selbst wenn es mal gen COLDPLAY geht (der Anfang von „Wait For Better Days“), schafft es WILSON, seine eigene Identität spätestens beim Refrain zu wahren.
Die Hinzunahme eines Saxophonisten (Marcin Kajper) bereichert den Sound um weitere Klangfarben, auch wenn man sich manchmal die Aggressivität eines David Jackson eher gewünscht hätte als die hymnische Unterstützung aus der Baker Street. Stimmig ist es jederzeit, der Muzak-Kollaps bleibt aus. Das gilt ebenso für die Streichersektion, die den entsprechenden Songs Fülle verleiht, ohne sie zuzukleistern. Eingestrichene Highlights sind „Easier The Way“, das sich geschmeidig zwischen den BEATLES, Brit Pop und milden WATERBOYS (tatsächlich) entlanghangelt, „Rhianne“, der sehnsuchtsvolle Seufzer, für den Tempo-Taschentücher erfunden wurden. Sowie der elegische Schlusstrack, der dezent floydig daherkommt.
RAY WILSON ist kein Erneuerer, sondern ein Bewahrer. „Noch einmal mit Gefühl“ könnte sein Motto sein. „She don’t feel so loved“, schlichte Geschichten rübergebracht als wären sie Weisheiten. Das beherrscht WILSON in seinen besten Momenten, von denen zahlreiche vorhanden sind. In den schlechteren schmeckt es wie eine schale Weinschorle am Morgen nach einer Party bei Leuten, die man seit Jahren kennt, aber nicht wirklich mag („Whatever Happened“, „She’s A Queen“, mit abgedroschenen Lyrics). Erwischt „Chasing Rainbows“ glücklicherweise nur selten.
FAZIT: Schön, dass RAY WILSON mal ohne GENESIS-Cover auskommt. Deren Geist ist alleweil vorhanden und reicht noch lange für den Nachlass. Treffen sich GENESIS (going down, calling all stations) und CHRIS REA (ungewöhnlich gut drauf) und spielen spontan mit Lust und Laune ein Album ein. So etwas wie „Chasing Rainbows“ hätte dabei herauskommen können. Mit Leichtigkeit RAY WILSONs gelungenstes Studio-Album. Keine Progrock-Innovation, sondern hymnischer, melodramatischer Pop, der eine große Kulisse verdient hätte. Im besten Sinne zeitlos, kitschig und von großen Gefühlen beseelt; ein bisschen schmierig höchstens an den Rändern.
Die Punkte-Wertung unten, mit Neigung zur 12, übernimmt mein sentimentaler Schwippschwager aus Südschweden.
PS.: Aus dem Tagebuch eines, von mysteriösen Presse-Infos geplagten, Rezensenten: Ich bezweifele, dass das „Classic Rock Magazin“ WILSON als einen „der erstklassigsten Sänger Großbritanniens“ bezeichnet hat. Dieser Superlativ existiert nicht. Was ist schon erstklassiger als erstklassig? Der Kindergarten? Überhaupt täte dem Schreiber ein kleiner Sprach- und Grammatikauffrischungskurs gut. Oder ein besseres Übersetzungsprogramm. Wie definiert sich „junge Energie“, und was verbirgt sich hinter „Rock Musik, die in einer Aufstellung von Songs den Höhepunkt“ findet? Außerdem heißt es immer noch „sowohl […], als(!) auch“.
Punkte: 11/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 16.04.2013
Lawrie MacMilllan
Ray Wilson, Ali Ferguson, Lawrie MacMilllan, Steve Wilson
Ali Ferguson, Ray Wilson, Steve Wilson
Darek Tarczewski, Peter Hoff
Ashley MacMilllan
Marcin Kajper, Barbara Szelagiewicz, Alicja Chrzaszcz, Sebastian Schlecht, Philipp Timm, Marie-Claire Schlameus
Jaggy D/Soulfood
53:25
19.04.2013