Schon seltsam, wenn sich nicht nur der Titel eines Albums wie ein psychoanalytisches Abenteuer durch die dunklen Abgründe des eigenen Seins liest, sondern auch der für uns Kritiker gedachte Promo-Zettel noch eins draufsetzt. Hat da irgendwer zu viel Kafka gelesen oder glaubt er etwa, das musikalische Gegenstück zum großen Meister der tief- und abgründigen „Selbstfindungs“-Parabeln zu sein?
THOMAS THIELEN, alias T, gilt seit seinem Erscheinen auf der musikalischen Bildfläche des progressiven Rocks, die er erstmals 2001 mit SCYTHE betrat, nicht gerade als ein lebensfroh-lustiger, sondern eher düster-melancholischer Typ, der noch vor über zehn Jahren so einigen Musikkritikern ein nachdenkliches Kopfschütteln (Mich ausdrücklich eingeschlossen!) verursachte, wenn es um T's Qualitäten als Sänger ging. Im Grunde waren seine „Vocals“ noch nie das Salz in der Musik-Suppe, sondern eher der fade Beigeschmack. Und auch heute, im Jahr 2013, ist seine Stimme, die entfernt an den MARILLION-H (Der beschränkt sich auch nur auf einen Buchstaben bei seiner Namensnennung!) erinnert und von, wohl nicht ohne Grund, vielen technischen Verfremdungen lebt, kein sonderliches Qualitätsmerkmal seiner Musik. Einer Musik, die trotzdem viele Reize zu vermitteln weiß, was wohl an dieser „verrückten“ Art im Umgang mit sich selbst, dem „Multi-Instrumentalisten, Sänger, Produzenten und Kontrollfreak, der gern zu Protokoll gibt, eine Vielzahl von Instrumenten fast mittelmäßig spielen zu können“ (Selbstbeschreibung T), liegt. Bereits wenn sich jemand mit T's Homepage oder besagtem Promo-Zettel auseinandersetzt, verfinstern Grübelfalten jede Denkerstirn, wenn da von „idiosynkratischen Klanglandschaften“ oder „schillerndes Amalgam aus Ohrwurmmelodien, avantgardistischer Klangwelt und seltsam natürlich anmutenden, aber krummen Takten“ die Rede ist. Wer's versteht, der möge sich stolz auf die eigene Schulter klopfen, wer nicht, wird garantiert nach dem ersten Hördurchgang dieser ungewöhnlichen CD sowie dem Betrachten der abstrakten Covergestaltung, die mich zumindest mehr abschreckt als anspricht, etwas klüger sein.
Allein der Titel „Psychoanorexia“ hinterlässt geheimnisvolle Botschaften, die zu entschlüsseln zwar nicht einfach, aber durchaus möglich sind. Es geht um die geistige (Psycho) Magersucht (Anorexia), also die komplette geistige Verblödung in einem Zeitalter, in dem die „Klingeltonnutzbarkeit musikalische Qualität bestimmt“. Doch T geht mit seinen diesbezüglichen Ausführungen, die sich in seinen wirklich anspruchsvollen Lyrics widerspiegeln, noch einen Schritt in der Brutalität seiner Aussagekraft weiter, was ich hier niemandem vorenthalten möchte und wofür ich vollstes Verständnis aufbringe: „Dies ist der Ort, an dem die Gier nach Popstargebärden die erhabene Erfahrung kreativer Erleuchtung auffrisst; die Ära, in der Demokratie nur noch Massenphänomene hervorbringt, nicht Vielfalt. In der wir sogar für Heuchelei zu faul geworden sind. Und zu beschäftigt, um unseren Verlust zu fühlen.“
Immer mehr drängt sich dem Hörer und Leser dieser CD und Zeilen der Verdacht auf, dass T mit seiner Musik, ganz ähnlich wie KAFKA, eine Art Selbstheilung von seinen Depressionen vorzunehmen sucht. Sich seinen Frust von der Seele musiziert und uns als unbeteiligte Hörer in sein „geistiges Dilemma“ mit hineinzieht. Und wir dürfen uns darin suhlen, bis es uns entweder genauso geht oder wir den Mann und Musiker, der da in totaler Eigenregie geistig-musikalisches Seelen-Striptease betreibt, einfach nur bewundern für so viel Mut … oder doch bedauern!?
T ist ein Verführer zum Psycho-Pessimismus. Sein Mittel ist dabei die Musik, die Keyboards, Bässe, Gitarren, Schlagzeug und Stimme beinhaltet und geschickt mit Stimmungen spielt, die einer Achterbahnfahrt gleichen. Mal langsam und behäbig sich erhebend, um dann im beinahe freien Fall in die Tiefe zu stürzen, ohne Rücksicht auf Verluste. Besinnliches Feinfühligkeit trifft auf brachiale Aggression – der Rückzug eines Autisten auf die Unerbittlichkeit eines Amokläufers – oder um es mit T's Worten auszudrücken: „Wir foltern keine Querdenker mehr, aber wir schreien sie nieder. Wir wünschen uns alles, aber sehnen uns nach nichts. Engstirnig ziellose aposiopetische (Abbrechen eines Satzes, der aus emotionalen Gründen nicht bis zum Ende geführt wurde – trifft im sprachlichen genauso wie im musikalischen Sinne zu! T.K.) Ichs.“
Ja – ganz genauso klingt „Psychoanorexia“! Musik, die uns vieles abverlangt, weil sie sich vieles abverlangt. Wer an sich zweifelt, sollte auf's Hören von „Psychoanorexia“ verzichten, denn entweder werden danach seine Selbstzweifel größer oder er gibt vorzeitig auf und schmeißt das Album in die Ecke. Wer aber die Stärke besitzt, sich mit den zur Schau getragenen Schwächen oder Ängsten eines Musikers tiefgründig auseinanderzusetzen, den zieht „Psychoanorexia“ in den Bann, eben weil man nicht an Psychoanorexia leidet!
FAZIT: „Dies ist das Zeitalter, in dem Chancengleichheit allgemeine Mittelmäßigkeit meint. In dem Ruhm Leistung diffamiert. In dem Bildung zur Unterwerfung anleitet. Jede Anstrengung macht sich verdächtig, Exzellenz bekleckern wir bräunlich. Wir übertreffen einander in Konformität und feiern unsere leeren Hände. Vielleicht verbrennen wir keine Bücher mehr, aber wir exzerpieren sie.“
Wer diese Zeilen versteht, der versteht auch „Psychoanorexia“.
Allen anderen empfehle ich, weiterhin den Klischees der verbalen Inhaltslosigkeit progressiver Rockmusik zu frönen und statt Kafkas Parabeln sich wie gehabt dem „Herrn der Ringe“ zuzuwenden.
Mittelerde ruft euch!
Ein kleines, nachträgliches PS noch am Rande:
T hat mir noch nie ein Autogramm verwehrt, weil ich mir auch nie eins von ihm gewünscht habe!
T hat mir auch nicht meine Freundin ausgespannt, weil ich ihn noch nie persönlich getroffen, geschweige denn ihm jemals irgendeine meiner Freundinnen vorgestellt habe.
T hat nicht nur Musik auf dem Album "fabriziert", sondern auch jede Menge darüber selber auf seiner Homepage und dem Promo-Zettel geschrieben. Auch darauf bin ich gezielt eingegangen, habe zitiert und in Kombination mit seiner Musik und seinen Lyrics die entsprechenden Rückschlüsse gezogen.
T hat definitiv ganz "tolle" Fans - auch wenn die hier alle ziemlich anonym bleiben!
Ein zweites "mir reicht es"-PS:
Nachdem die Einträge im Gästebuch hier immer stärker mit Beleidigungen nicht nur gegen den Kritiker, sondern auch gegen den einzigen kritischen Gästebuchschreiber ausuferten, habe ich gezwungenermaßen den letzten Beitrag des Freaks, der sich als großer Musikversteher darstellt, gelöscht. Mich könnt ihr beleidigen - aber bitte beschränkt euch auf meine Person.
Zwar erkläre ich ungern meine Kritiken, aber ich stelle hier etwas klar:
Meine Kritik fußt in erster Linie auf dem Promo-Begleitzettel, den ich als Kritiker zusätzlich zum Album erhalte und der offensichtlich von Thomas Thielen selbst geschrieben wurde. Diese Aussagen bilden auch die Grundlage meiner Kritik und werden eindeutig mit der Musik in Verbindung gesetzt.
Allerdings habe ich nach all der Aufregung unter meiner Rezi noch mehrmals "Psychoanorexia" gehört - und bin zur traurigen Erkenntnis gelangt, dass dieses Album schlechter ist, als ich es zuvor eingeschätzt habe. Da hilft auch die ganze Fan-Lobhudelei nichts. T langweilt auf seinen langen Titeln oft mit ruhigen Klängen, um dann immer mal wieder mit lauten Passagen auszubrechen. Dazu verbreitet er frustrierende Textbotschaften, die anfangs interessant klingen, am Ende aber ausschließlich einen bedrückt-beklemmenden Eindruck beim Hörer hinterlassen.
Irgendwie muss ich beim Hören immer an Hitchcocks "Psycho" denken - ein Film, der zugleich beeindruckt und bedrückt und am Ende der pure filmische Psycho-Horror ist.
T hat den puren akustischen Psycho-Horror geschaffen.
Wer das mag, der soll gerne glücklich werden mit diesem Album.
Wer's nicht mag, den sollte man aber deswegen nicht gleich in den Karzer stecken wollen - diese Zeiten sind längst vorbei, ob das die Fans von Thomas Thielen nun begreifen oder nicht. Lebt einfach damit, genauso wie mir nunmehr bewusst wurde, dass jeder weitere Hördurchgang von "Psychoanorexia" nach und nach immer stärker zur Qual wird.
Ich habe keine Lust mehr, mich weiterhin damit zu quälen!
War das jetzt eindeutig genug, Musikfreak???
Erschienen auf www.musikreviews.de am 11.02.2013
Thomas Thielen
Thomas Thielen
Thomas Thielen
Thomas Thielen
Thomas Thielen
Progressive Promotion Records
66:29
01.02.2013