Angekündigt, verschoben, angekündigt, verschoben, angekündigt, verschoben: Das zweite Album von CEA SERIN schien schon auf dem Weg zum „Chinese Democracy“ des Progressive Metal zu sein. Selbst auf der Schlussgerade, als das Album endlich fertig eingespielt und produziert war, hatte CEA-SERIN-Mastermind Jay Lamm (mal wieder) mit der Unfähigkeit einer Plattenfirma zu kämpfen. Glücklicherweise stand das kleine, aber feine deutsche Generation-Prog-Label parat, sodass „The Vibrant Sound Of Bliss And Decay“ doch noch erscheinen kann.
Was das Album auszeichnet, lässt sich in der Kurzfassung so beschreiben: Unglaubliche technische Versiertheit, wahnwitzige Präzision, ultratighte Brutalität, unfassbare Melodien, außergewöhnliche Abwechslung. An dieser Stelle könnte man das Review jetzt beenden und schlicht die Höchstnote zücken, aber das würde diesem außergewöhnlichen Werk in keinster Weise gerecht. Nicht, dass der Verfasser sich anmaßen würde, CEA SERIN mit Worten nahekommen zu können. Aber „The Vibrant Sound Of Bliss And Decay“ schreit danach, mit vielen Worten beschrieben und angepriesen zu werden.
Wäre Jay Lamm ein abgewichster Geschäftsmann, er hätte folgendes gemacht: Er hätte Ville Laihiala (Ex-SENTENCED), Tobias Sammet (EDGUY), Ray Alder (FATES WARNING), David DeFeis (VIRGIN STEELE) und Tom Owens (Ex-alles) ins Studio eingeladen, die Ausnahmesänger einige Parts einsingen lassen, das Album mit großem Marketingetöse als „erste Prog-Metal-Oper“ verkauft und damit reich geworden. Jay Lamm ist aber kein abgewichster Geschäftsmann, sondern einfach nur ein Künstler mit scheinbar überbordender Kreativität. Also hat er einfach die imaginären Parts von Laihiala, Sammet, Alder, DeFeis und Owens von brutal growlend bis engelsgleich schmeichelnd selber eingesungen. Was ein Aspekt der großen Varianz von „The Vibrant Sound Of Bliss And Decay“ ist.
Der andere ist natürlich die Musik. Auf einem grundsätzlich sehr metallisch tönenden Fundament, auf dem chirurgisch-skalpellarisch gerifft wird und mit der Präzision einer digital angesteuerten Nähmaschine die Drums eine moderne Basis legen, gehen CEA SERIN geradezu verschwenderisch mit ihren Ideen um. Knüppelharte Rifforgien, halsbrecherische Skalenritte, zerbrechliche Pianoparts, all das gibt’s hier im Minutentakt. Klar, hier und dort schimmern FATES WARNING als Inspiration durchaus hindurch, insbesondere dann, wenn Lamm seine Ray-Alder-Stimme ertönen lässt, doch unterm Strich geht das Trio so eigenständig zu Werke wie kaum eine andere Prog-Metal-Band.
Wenn man den Vergleich zu DREAM THEATER ziehen wollte, würde man konstatieren: Die erfolgreichste Prog-Metal-Band schießt, wenn es metallisch zur Sache gehen soll, weit übers Ziel hinaus; soll es dagegen besinnlich sein, verlieren sie sich im schwülstigen Kitsch. Bei CEA SERIN stimmt dagegen die Balance: Bei aller musikalischen Intensität verlieren sie nie den Blick für die Melodie, und wo das Traumtheater mit ZDF-Fernsehgarten-kompatiblen Gruselmelodien nervt, gibt’s bei Lamm & Co. sanfte Percussions, sparsam gesetzte Pianotupfer – und liefern so mit klangreduzierter Vorgehensweise die Gänsehäute gleich im Kilopack.
FAZIT: Fünf Songs befinden sich auf „The Vibrant Sound Of Bliss And Decay“; und egal, ob es die knüppelhartmelodischen „The Victim Cult“ oder „Holy Mother“ sind, das besinnliche „Ice“, das wahnwitzige „The Illumination Mask“ – der Inbegriff der musikalischen Achterbahnfahrt – oder die 20-minütige Progdoktorarbeit „What Falls Away“: Jeder Song, jede Minute, jede Sekunde dieses Albums ist essenziell. Wer auf verschachtelte Musik steht und in diesem Jahr nur ein einziges Album kaufen möchte, der greift bitte zu „The Vibrant Sound Of Bliss And Decay“, das in den Kategorien abwechslungsreich, intensiv, heftig, melodisch Maßstäbe setzt und für Monate Hörgenuss verspricht. Das Wort „einfach“ ist sicher nicht zutreffend auf CEA SERIN, mit einer Ausnahme: einfach überragend.
Punkte: 15/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 02.10.2014
Jay Lamm
Jay Lamm
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Generation Prog
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06.10.2014