Bei Schusswunden folgt dem Eintritt gemeinhin der Austritt, mit dem Leben verhält es sich genauso. Nur FIRE! ORCHESTRA liefern erst das „Exit“ und dann das „Enter“. Hier ist eben alles ein bisschen anders.
Sage und schreibe 28 Akteure sind an dem neuen Werk des Saxophonisten Mats Gustafsson beteiligt (beim Vorgänger waren es noch zwei weniger). Wer jetzt reines Chaos erwartet, hat „Exit“ damals nicht oder nur mit halbem Ohr gehört – es ist schlichtweg faszinierend, wie reduziert, geradewegs minimalistisch Gustafsson seine Mitspieler dirigiert, die über weite Strecken gar nicht erst zu hören sind, bevor sie in einem Vulkanausbruch alle Reserven in die Waagschale werfen und den Free Jazz wörtlich nehmen.
„Exit“ brauchte lediglich drei Noten in Dauerschleife, um zu hypnotisieren, und auch „Enter“ begnügt sich mit einem schlichten, aber umso wirkungsvolleren Motiv, das in ansteigender Intensität in den Loop verwiesen wird. Nichts als Martin Hederos Fender Rhodes pirscht voran, wie vorangehender, jenseitiger Schall dient er dem Hörer als Vorbote auf eine große Melodie, die ihn alsbald wie eine mächtige Flutwelle überrollen wird, ganz physisch und direkt. Das Motiv wird auf „Part Four“ des vierteiligen Albums wieder zurückkehren und garantiert einen Ohrwurm hinterlassen, doch wird das eigene Nachpfeifen der Melodie unter der Dusche im direkten Vergleich erbärmlich wirken, bedenkt man, welche Tricks das 28-Tett aus seinen 56 Ärmeln zaubert, um die simple Notenfolge zu einer pompösen Jazz-Fanfare aufzubauen.
Ein herausragendes Merkmal des FIRE! ORCHESTRA ist auch diesmal wieder der Gesang. Dadaistische Klangblasen verlassen die Kehlen von Mariam Wallentin, Sofia Jernberg und Simon Ohlsson, dem souligen Kern entfleuchen mitunter animalische, zutiefst avantgardistische Stimmexperimente, die mancher kaum mehr als Gesang bezeichnen möchte, denn das Trio geht an einigen Stellen so weit, dass es durch Stotter-, Falsett- und Grunzlaute rein perkussive Absichten verfolgt. Das Ergebnis ist nicht unähnlich dessen, was BJÖRK auf „Medúlla“ ausprobiert hat. Im Klimax von „Part One“ beispielsweise wird mit dermaßen hoher Stimmlage gekreischt, dass der Gesang kaum mehr von den zeitgleich gespielten Saxophon-Flageoletts zu unterscheiden ist.
Mit diesen Mitteln erreicht Gustaffson eine Stimmung wie beim Giallo: Ruhige, regelmäßige Abläufe werden von schrillen Zwischenfällen durchschnitten. In diesen Momenten benötigt der Dirigent dann auch seinen 28-PS-Motor, den er beizeiten immer wieder gerne aufheulen lässt, wobei er selbstverständlich auch vor dissonanten Sax-Läufen nicht zurückschreckt, die sich – der Jazzfreund sieht gerade darin die Harmonie – enorm mit den mechanischen Drum-Samples und repetitiven Gitarrenläufen beißt, wobei letztere regelmäßig in Rückkopplungs-Wurmlöchern versanden. Trompeten und Trombone sorgen im zweiten Abschnitt von „Part Two“ für New-Orleans-Flair; „Part Three“ legt dann nochmal ein paar Experimental-Briketts aufs Feuer. Die hier stattfindenden Stimmübungen mögen böse Geister als Begleiterscheinungen besonders anstrengender Toiletten-Peristaltik interpretieren, Tatsache ist aber: Bei aller Exaltiertheit wirkt all das vergleichsweise natürlich bzw. unaufgesetzt, auch wenn der gemeine Radiomusikhörer hier wohl widersprechen würde.
FAZIT: Enter the World of Fire! Orchestra, dort, wo Anfang und Ende die Plätze getauscht haben und Ausrufezeichen nicht am Ende einer Aussage stehen, sondern irgendwo dazwischen. Der Typografie des Namens folgend, schmuggeln sich jene Ausrufezeichen in Form plötzlicher „Jazzplosionen“ gerne mal als Erschrecker mitten in die gemütlichen Kompositionen. Ein Eimer kaltes Wasser trifft den Langschläfer auch nicht mit mehr Effet. So entstand eine Platte, die relaxt ist und doch dynamisch, hysterisch und doch nicht überladen, motivisch simpel und komplex in der Umsetzung. Eine enorme Mannschaftsleistung.
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 26.07.2014
Johan Berthling, Joel Grip, Dan Berglund
Mariam Wallentin, Sofia Jernberg, Simon Ohlsson
Andreas Söderström, Sören Runolf, David Stackenäs
Sten Sandell
Andreas Werliin, Johan Holmegard, Raymond Strid
Goran Kajfes (Kornett), Niklas Barnö (Trompete), Magnus Broo (Trompete), Emil Strandberg (Trompete), Mats Äleklint (Trombone), Per Ake Holmlander (Tuba), Anna Högberg (Alt-Sax), Mats Gustafsson (Tenor Sax), Elin Larsson (Tenor Sax), Fredrik Ljungkvist (Bariton-Sax, Klarinette), Martin Küchen (Bariton-Sax), Christer Bothén (Bass-Klarinette), Jonas Kullhammar (Bass-Sax), Martin Henderos (Fender Rhodes), Sten Sandell (Mellotron), Joachim Nordwall (Electronics)
Rune Grammofon
54:32
27.06.2014