FLOTSAM AND JETSAM haben ihr zweites Album neu aufgenommen. Das wird für Diskussionen sorgen. Denn wenn es eines gibt, was Musikern nicht gegönnt wird, dann ist es das Geldverdienen. Kaum ein Live-Album, kaum eine EP, kaum eine Neuaufnahme, kaum etwas können Bands veröffentlichen, ohne dass "Ausverkauf!" geschrien wird. Erstaunlicherweise gilt das nicht für Merchandise-Artikel: Kaffeebecher, Unterhosen, AC/DC-Bier, alles in Ordnung – Hauptsache, es werden nicht mehrere Versionen eines Songs veröffentlicht.
Einen alten Klassiker neu aufzunehmen ist der denkbar schlimmste Frevel, den eine Band begehen kann. Dabei spricht vieles dafür: Das Original verschwindet nicht, ist aber wieder in aller Munde, und die Bands nehmen mehr alte Nummern ins Live-Programm auf. Wer es scheiße findet, dass für die Musiker auch noch etwas Geld dabei rausspringt, regt sich wahrscheinlich auch darüber auf, dass die Klofrau 20 Cent haben will.
FLOTSAM AND JETSAM sei etwas mehr Aufmerksamkeit und Kohle ganz besonders gegönnt, denn die Band leidet unter dem ANVIL-Syndrom: seit Jahrzehnten mit viel Herzblut und soliden Alben dabei, aber nie den Sprung in die erste Liga geschafft.
Wie bei ANVIL war der Anfang vielversprechend. Das FLOTSAM AND JETSAM-Debüt "Doomsday for the Deceiver" (1986) und der Nachfolger "No Place for Disgrace" (1988) wurden zu Klassikern des Thrash Metals, rasend schnell, komplex und ungewöhnlich melodisch. Danach veröffentlichte die Band weiter fleißig Alben, zuletzt "Ugly Noise" vor zwei Jahren – allerdings bekamen das immer weniger Leute mit. Die Europa-Tournee zur Neuaufnahme von "No Place for Disgrace" absolvieren FLOTSAM AND JETSAM im Vorprogramm von SEPULTURA und LEGION OF THE DAMNED.
Die neue Version des Albums wird die Fans spalten, auch diejenigen, die sie sich gewünscht haben. Grund ist die geänderte Geschwindigkeit: "No Place for Disgrace" ist 2014 deutlich langsamer als es vor über 25 Jahren eingespielt wurde. Die Bandmitglieder sind nicht etwa zu alt geworden, um das Wahnsinnstempo des Originals durchzuhalten, eher sollen sich auf der Neuaufnahme alle Feinheiten des Spiels heraushören lassen. 1988 gingen FLOTSAM AND JETSAM nämlich so halsbrecherisch schnell zu Werke, dass sich die Instrumente fast überschlagen: Schon im Titeltrack sind die Riffs teilweise nichts weiter als ein dumpfes Brummen. Ja, Metal kann auch zu schnell sein.
Keine Sorge, die neuen Versionen von Highspeed-Brechern wie "N E Terror" und "I Live You Die" sind immer noch rasant, aber auch um einiges nuancierter. Wer "No Place for Disgrace" länger nicht mehr im Ohr hatte, wird den Unterschied nicht merken, doch auch im direkten Vergleich stinkt die Neuaufnahme nicht ab. Stattdessen werden die Nachteile des Originals offensichtlich, allen voran der verwaschene Sound, aber auch die Geschwindigkeit: Das Original von "I Live You Die" klingt überhastet, die neue Version dagegen bombastisch und kraftvoll, oder auch: genau richtig.
Wo viele andere Bands ihre Klassiker neu aufnehmen, weil Ideen für ein neues Album fehlen, bekommt man hier eher den Eindruck, dass diese Neuaufnahme der Band selbst wichtig war. FLOTSAM AND JETSAM haben an ihrem eigenen Material gefeilt. Herausgekommen ist das Album, das sie damals beabsichtigt hatten. Das Ergebnis funktioniert, weil es besser, aber nicht weniger frisch klingt als das Original: Die Band ist fit, Eric A.K. trifft die Töne, der Sound ist angemessen organisch. Das Album lebt, was man von den meisten Neuaufnahmen nicht behaupten kann.
FAZIT: "No Place for Disgrace 2014" ist nicht bloß eine Neuaufnahme, sondern auch eine Neuinterpretation. Die neue Version ist deutlich langsamer – dadurch kommen die Songs erst voll zur Geltung. FLOTSAM AND JETSAM haben alles richtig gemacht.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 10.02.2014
Jason Ward
Eric A.K.
Edward Carlson, Michael Gilbert
Kelly David-Smith
Metal Blade
59:12
14.02.2014