Man musste als Fan einiges an Geduld aufbringen, um das seit Jahren angekündigte, neue GORGUTS-Album in Händen halten zu können. Nun ist es soweit, die mit Spannung erwartete Zusammenarbeit von Mastermind Luc Lemay und Wunderdrummer John Longstreth liegt vor.
Natürlich kann man ein Album nicht nur auf das Mitwirken zweier Musiker reduzieren, aber diese beiden besetzen doch die Schlüsselpositionen für den Erfolg.
Der Einfluss Lemays liegt auf der Hand, er ist der Lemmy, der Rock’n’Rolf bei GORGUTS. Mit seiner Rolle als Identifikationsfigur enden die Parallelen allerdings auch schon, denn wo Motörwild sich kompositorisch – mit mehr oder weniger Erfolg – treu bleiben, gibt es bei GORGUTS von Scheibe zu Scheibe doch immer recht deutliche Veränderungen. Hierin ähneln sie den Landsleuten Voivod, deren Stallgeruch ebenfalls trotz aller Modifikation stets unverwechselbar bleibt.
Auch auf „Colored Sands“ bedient sich die Band unmittelbar erkennbarer, mit „Obscura“ etablierter Eigenheiten wie komplexen Arrangements, unorthodoxem Gitarrenspiel und – mehr denn je – zu eigentümlicher Melodie verwobener Dissonanz. Herausgekommen ist dabei das „hörbarste“ Album der technischen Phase. Das bedeutet nicht, dass die Band einen Rückschritt gemacht, ihr Pulver verschossen oder sich gar in Richtung Berechenbarkeit bewegt hätte. Die größere Zugänglichkeit gründet darin, dass hier die flüssigsten Songs der Bandgeschichte zu finden sind. Vor allem hat diese Scheibe etwas, das „Obscura“ und „From Wisdom To Hate“ in diesem Sinne nicht hatten: Groove.
Und damit sind wir bei der Kombination zweier außergewöhnlicher Talente. Es scheint, als hätte Lemay nur auf Longstreth gewartet. Neben der unfassbaren technischen Versiertheit und halsbrecherischen Geschwindigkeit hat dieser Schlagzeuger eine Gabe, die sich an jeder Platte ablesen lässt, auf der er spielt. Er strukturiert den Überschall-Wahnsinn durchweg mit für diese Informationsdichte beeindruckend klaren Motiven. Auf diese Weise verhilft er Origin zu dem gewissen Etwas und pusht Dim Mak von einer sehr guten zu einer überragenden Band. Genau so läuft es hier. Nichts gegen seine Vorgänger, die sind selbstverständlich tolle Schlagzeuger, aber in Sachen Tempo, Tightness und eben vor allem Prägnanz halten sie bei weitem nicht mit.
Der Chef selbst hat seine Arrangements dem gegenüber beinahe orchestral gestaltet, die Schemata des Rocksongs noch weiter aufgelöst als bislang schon und seinem Drummer viel Raum gegeben, durch akzentuiertes Gemetzel zu glänzen. Die Kompositionen wirken sowohl offener als auch kompakter, vielseitiger und durchdachter, jedoch ohne Radikalitätsverlust. Im Gegenteil. Die Blasts sind brutaler und gnadenloser als je zuvor („Enemies Of Compassion“), die zähfließende Seite der Band ist drückender und schwerer („Absconders“), das Gefrickel sorgt regelmäßig für Maulsperren und wenn die Truppe an den Nerven zerren will, dann zerrt sie aber sowas von an den Nerven! Das Ergebnis strahlt gleichwohl eine Erhabenheit aus, die fast schon episch zu nennen ist und sehr viel mehr Stimmung, Drama und emotionale Dringlichkeit transportiert als die doch eher unpersönlich-technoid wirkenden Vorgänger.
Wie sehr Meister Lemay als Komponist gereift ist, zeigt im Übrigen das in der Mitte des Albums platzierte Streichquintett. Man kann nur sagen: Donnerwetter. Diese fünf Minuten bilden den Ruhepol der Platte und sind so elegant komponiert wie einfach nur wunderschön.
FAZIT: GORGUTS haben ihre Stärken ausgebaut, ihren Ausnahmestatus in Sachen Hirnerweichung gehalten und noch zusätzlichen Schub durch das neue Line-Up (zu dem mit Colin Marston und Kevin Hufnagel zwei weitere begnadete Musiker gehören) bekommen. Klarer Fall für den Fan in mir: Dieses Album ist schon jetzt meine Lieblingsplatte der Band. Aber egal, welches der drei Irrenanstalt-Alben man letztlich bevorzugt, enttäuschen wird dieses monströse Meisterwerk niemanden, der je was mit der Truppe anfangen konnte.
P.S. Dies sind die ersten 15 Punkte, die nicht retrospektiv für ein Lieblingsalbum, sondern für eine Neuveröffentlichung vergeben werden.
Punkte: 15/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 21.01.2014
Colin Marston
Luc Lemay
Luc Lemay, Kevin Hufnagel
John Longstreth
Season Of Mist
62:49
30.08.2013