Nach dem Tod ihres herausragenden Frontmanns Steve Lee im Oktober 2010 standen GOTTHARD am Scheidepunkt ihrer Karriere. Dass die Band mit Neusänger Nic Maeder in „Firebirth“ anschließend ein Album in relativer Nummer-Sicher-Manier veröffentlichten, konnte der erfolgreichsten Schweizer Hardrockband niemand wirklich übelnehmen. In schweren Zeiten besinnt man sich vor allen Dingen auf sich selbst. Dass es anschließend aber nicht zwingend im „so wie immer“-Duktus weiter gehen konnte, war klar. Dass die Band aber ein derart fulminantes wie mutiges Album wie „Bang!“ folgen lassen würde, das darf zu den größten Überraschungen der GOTTHARD-Diskografie zählen.
Auf der einen Seite schafft es die Band, den urtypischen Sound zu kultivieren. Traditionelle, schnörkellose Rocknummern wie „Get Up’n Move On“, „Jump The Gun“, „My Belief“, „Red On A Sleeve“, „What You Get“ oder „Mr. Ticket Man“ bilden das Sicherheitsnetz des Albums. Klar akzentuierte Gitarren, simpler, nachvollziehbar Hardrock, hier und dort fette Schweineorgelklänge, keine Experimente, Maeders Vocals nah an Steve Lees Stimme. Songs, die auf allen Alben der Vergangenheit stilistisch nicht aufgefallen wären – vielleicht qualitativ, zählen sie doch allesamt zu den stärkeren Songs dieser Strickart.
Das ist die eine Seite von „Bang!“, die konventionelle. Gut und schön, und, wie erwähnt, durchaus hochklassig. Noch besser allerdings sind die Songs ausgefallen, in denen sich die Band für ihre Verhältnisse streckenweise recht weit aus dem Fenster lehnt. Dass man im Opener und Titeltrack frische, treibende Boogie-Rhythmen zu Gehör bringt, darf man noch als Stilmittel im Rahmen des Normalen bezeichnen, und auch bei der ersten Single „Feel What I Feel“, die mit einigen moderneren Ansätzen, klassischen GOTTHARD-Hooks und einer starken, sofort nachvollziehbaren Gesangsmelodie direkt ins Gehirn strebt, ist man noch geneigt, nur von einer dezent ausgeweiteten Jagdfläche der Schweizer zu sprechen.
Das mit dramatischen Tönen direkt an LED ZEPPELINs „Kashmir“ erinnernde „I Won’t Look Down“ fällt zwar auch ein wenig aus dem bisherigen Bandraster, ist aber ebenso noch in die Rubrik „ist ja noch Hardrock“ einzusortieren. In „Spread Your Wings“ erstaunt die Band mit bluesigen Untertönen – doch die größten Überraschungen halten die Balladen des Albums parat. Einen Signature-Song wie „Homerun“, „Heaven“, „Let It Rain“ oder „I’m On My Way“ gibt es diesmal nicht – wer es gerne zartschmelzend mag, muss sich aber nicht enttäuscht abwenden. „C’est La Vie“ taugt als Soundtrack eines prämierten, kulturell wertvollen französischen Liebesfilms, bringt mit Akkordeonklängen eine gänzlich neue Seite in den GOTTHARD-Sound. Auch das Duett von Nic Maeder mit der bislang gänzlich unbekannten Melody Tibbits in „Maybe“ ist eine Monsterballade, die jeden Mainstream-Radio-DJ zur Dauerrotation animieren sollte.
Wenn „Bang!“ jetzt vorbei wäre, würde man sagen: Ein bärenstarkes Album, das sich selbstbewusst einen Platz im vorderen Bereich der Bandhistorie sichert. Aber: Ein Song fehlt noch – und was für einer. „Thank You“ hat von allen 13 Songs das mit Abstand größte Hitpotenzial, erinnert in der Melodieführung frappierend an Robbie Williams, glänzt mit seinem opulenten Orchester-Arrangement und einer fantastischen Stimme Nic Maeders fernab vom Nummer-sicher-Pfad – und traut sich, mit fast elf Minuten jedes Single-Schema komplett zu sprengen. Gänsehaut!
FAZIT: Lange Jahre haben sich GOTTHARD in ihrer Komfortzone ohne Experimente wohlgefühlt. „Bang!“ ist so etwas wie der Aufbruch in neue Zeiten. Auch wenn nach dem Tod Steve Lees mit dem Einstieg Nic Maeders so etwas wie „GOTTHARD 2.0“ ausgerufen wurden, ist erst „Bang!“ der katapultartige Start in ein gänzlich neues Bandkapitel. Selten fanden vertraute Klänge und mutige Ansätze so harmonisch zueinander wie auf „Bang!“.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 01.04.2014
Marc Lynn
Nic Maeder
Leo Leoni, Freddy Scherer
Hena Haberger
G. Records/Pias
62:24
04.04.2014