Was wohl haben wir alles schon gelernt, um es dann ganz schnell wieder zu vergessen?
Schulweisheiten, die am Leben vorbeigehen, aber trotzdem für unser Leben so wichtig sind, weil, wenn wir diesen überflüssigen Quark nicht auswendig pauken, erreichen wir nicht den Numerus Clausus, den Durchschnitt, der über unsere Zukunft entscheidet.
Unser Kopf wird uns schwer vom Überfluss des Überflüssigen, der darin gespeichert ist und unsere Augen und Ohren sehnen sich dann leider nach etwas Seichtem. Etwas, das uns nicht auch noch viel abverlangt - so funktioniert dann die Verblödung, die uns Tag für Tag aus bunten Bildschirmen entgegenflimmert und uns, ohne dass wir länger darüber nachzudenken brauchen, als unwiderstehliches Bedürfnis verkauft wird, was im Endeffekt der in bunten Farben verpackte geistige Dünnschiss ist.
Doch manchmal gibt es auch in Deutschland noch junge Bands, die diesem Darmendprodukt noch nicht auf den Leim gegangen sind und sich auf progressive Art und metallische Weise die alles entscheidende Frage nach dem stellen, was wir wirklich gelernt haben. Sie fragen nicht nur - sie stellen infrage und das gleich 73 Minuten lang.
Also entrümpelt eure Hirnmasse, stellt eure Synapsen auf Empfang und hört unbedingt in „All That We Have Learned“ von ILLUSIVE CIRCUS aus dem sächsischen Radebeul hinein.
Ein Album, das wie saugfähiges Klopapier für den geistigen und akustischen Dünnschiss in uns daherkommt und sogar mal genauso (allerdings digital gewollt) knistert wie unsere gute alte LP (Langspielplatte), der man schon so viele Tode bescheinigte und die aus purem Protest und der Liebe solcher Nostalgiker wie wohl auch mir einfach nicht stirbt, sondern Phoenix aus der Asche gleich wieder aufersteht und uns erneut erscheint. Die LP - der Jesus der Musikkultur!
Ein fast melodramatischer Einstieg mit dunklen Piano-Läufen erwartet uns am Anfang der CD. Bässe und Gitarren gesellen sich hinzu, bombastische Stimmungen breiten sich aus, bis schwere E-Gitarren-Gewitter das erste Metal-Feuerwerk entfachen, um sich dann wieder atmosphärischeren Sounds, ähnlich wie wir sie von PORCUPINE TREE kennen, zuzuwenden.
Nach solchem vielversprechenden Beginn steuern wir natürlich auf die wohl nächste entscheidende Frage zu: Wie wird wohl der Gesang klingen?
Zu oft mussten wir im Prog Metal erleben, dass gute instrumentale Ansätze von vokalistischen Stümpereien in Grund und Boden gestampft wurden.
Hoffentlich ist das in Radebeul nicht auch der Fall!
TOBIAS SCHRÖDER gibt Antwort und singt sich die Seele aus dem Leib, eine Seele die von einem JAMES LABRIE genauso besessen ist wie von einem RUSSELL ALLEN. Natürlich noch nicht ganz genau in deren Klasse, aber schon verdammt nah dran - was besonders beachtlich zum Ausdruck kommt, wenn Schrödersche Stimmbänder sich ein duellierendes Duett mit TÜRKE-QUELLMALZschen E-Gitarren-Saiten liefern, während der FRENZEL mal locker den RUDESS raushängen lässt.
ILLUSIVE CIRCUS werden jedem, der seine Ohren noch gerne im TRAUM THEATER ausführt, um sich dort die SYMPHONY X reinzuziehen, große Freude bereiten. Wobei diese Freude eben noch sehr stark musikalische Erinnerungslücken schließt, als wirklich neue Prog-Metal-Horizonte zu eröffnen. In jedem Falle aber wird hier Musik geboten, die alles, was die fünf Radebeuler gelernt haben, auf imposante Weise zum Strahlen bringt.
Musik-Wissen, das eben kein Dünnschiss ist, dafür aber geschickt angewandt auf „All That We've Learned“ zum Tragen kommt und uns beweist, dass wir in der Schule eben nicht für's Leben, sondern den Durchschnitt lernen, um am Ende nur Durchschnitt zu sein, was zum Glück nicht für die Musik von ILLUSIVE CIRCUS gilt.
FAZIT: Im ILLUSIVE CIRCUS lernen wir keine Clowns oder durch brennende Reifen springende Tiger kennen, sondern Musiker, die ihr Handwerk verdammt gut verstehen, weil sie von denen, die's können, aber nicht denen, die nur so tun, gelernt und auch abgeschaut haben. Dafür gibt's 'ne glatte Zwei!
PS: Diese Kritik wurde von einem Deutsch-Lehrer geschrieben, der mit seinen Schülern viel lieber eigene Texte und Gedichte schreibt, anstatt Fremdes bis zum Erbrechen zu interpretieren. Und dem derzeit dieses unerträgliche Shakespeare-Gesülze gehörig auf die Eier geht. Übrigens hat gerade darüber auch Shakespeare sehr gerne geschrieben, nur so einige Übersetzer haben diese Passagen dann für den guten deutschen Schöngeist einfach entschärft. Na, mal wieder was für's Leben gelernt?
Punkte: 11/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 25.04.2014
Mike Jäger
Tobias Schröder
Christian Quellmalz, Erik Türke
Holger Frenzel
Bernhard Hintze
Eigenvertrieb
73:19
22.01.2014