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Jazzorchester Vorarlberg: Morphing

Stil: Jazzmix aus Moderne und Tradition

Cover: Jazzorchester Vorarlberg: Morphing

Jazz, das ist die Musik der Querdenker, der Unangepassten, der Perfektionisten und Idealisten. In Zeiten, in denen der finanzielle Erfolg immer mehr den ideellen verdrängt, fällt es zugleich immer schwerer eine Karriere als Musiker vor dem Hintergrund des eigenen Auskommens zu realisieren bzw. vor der Gesellschaft oder aber vor sich selbst zu rechtfertigen. Gerade dem zeit- und pflegeintensiven Genre des Jazz ist der Begriff des "Gesundschrumpfens" ein Fremdwort. Es folgt ein Deutungsversuch, warum das JAZZORCHESTER VORARLBERG trotzdem sowohl auf Quali- als auch Quantität setzt und was der Titel ihres aktuellen Album "Morphing" zu bedeuten haben könnte.

Das am westlichen Zipfel Österreichs gelegene Bundesland Vorarlberg fördert das nach ihm benannte Jazzorchester. Damit können die 15 aus der Region stammenden Musiker, die momentan am Projekt beteiligt sind, zumindest zeitweise etwas sorgenfreier aufspielen. Da sie neben der eigenen Musik auch Auftragsarbeiten annehmen und Kollaborationen eingehen, kann das Orchester mittlerweile einen professionellen Ruf vorweisen. Der Wiener Jazzmusiker Clemens Wagner hat die Kompositionen arrangiert und dabei versucht die Vergangenheit mit der Moderne zu verknüpfen.

Damit nimmt er in abstrakter Weise ein Morphing vor. Das Wort, das eigentlich aus der Bildbearbeitung stammt, beschreibt den Prozess, bei dem zwei oder mehr Bilder übereinander gelegt werden, sodass ein neues entsteht. Besonders gerne wird das mit Gesichtern von Stars und Sternchen vorgenommen, beispielsweise um das Aussehen möglicher Kinder durchzuspielen. Gleich im eröffenden, modern betitelten 'Shape Shifta' zeigt sich, dass der Ansatz auch musikalisch zu verwerten ist.

Das 9 1/2-minütige Spektakel beginnt mit wilden Polyrhythmen und neueren, von Blechbläsern interpretierten Tönen und wird danach von einem Hammond-Orgel-Solo-Teil ausgebremst. Es folgt ein exotisch wirkendes Chaos aus wilden Improvisationen und Film-Soundtrack-artigem Jazz. Um die Wandlung perfekt zu machen, wird das Songwriting minimalisiert bis es fast gänzlich erstirbt. Die Achterbahnfahrt durch Zeit und Raum wird letztendlich vom Anfangsthema rund gemacht und eingerahmt. Wem das zu anstrengend und abwechslungsreich war, der kommt wohl eher in 'Alp Edo' auf seine Kosten. Das ebenfalls rhythmisch komplexe Stück ist bei aller Experimentierfreudigkeit schlüssiger komponiert und wirkt auch mit dem asiatisch-spaceigen Endteil wie aus einem Guss.

Paradox wird es in 'Wimmelbild', dem einzigen Song mit Gesang. Anders als der Titel vermuten lässt, ist der knapp vierminütige Song ein klar strukturiertes, minimalistisches Stück Jazz, das gänzlich von ohne Hektik auskommt. Ein perfekter Ruhepol für das Album, wäre da nicht der Sprechgesang von Mieze Medusa. Mit ihrem Slam Poetry-Ansatz versucht die Künstlerin das Leben anhand von anscheinend wild zusammen gewürfelten Begrifflichkeiten zu beschreiben, eben wie ein Wimmelbild aus einem Kinderbuch. Die Idee Musik und Text so gegensätzlich zu konstruieren, gefällt und auch wenn das gesprochene Wort nicht immer wirklich genial ist, passt das Experiment sehr gut zur künstlerischen Idee des Orchesters, seiner Unangepasstheit und der ständigen Neuerfindung.

Das vielleicht modernste Stück ist zugleich das gewöhnungsbedürftigste. Die ersten sechs Minuten von 'Les Salces' bestehen aus dunklem Ambient, in den immer wieder plötzlich Blechbläser einbrechen, um genauso schnell wieder zu verschwinden. Danach wird ein weiteres Mal gemorpht, indem Jazz und erstaunlich tanzbarer Elektronik übereinander gelegt wird. Die erhofften Synergie-Effekte fallen allerdings weit weniger stark aus, als man sich das gewünscht hat, weswegen danach ausschließlich auf elektronische Spielereien à la TRENT REZNOR gesetzt wird.

Traditioneller ist da 'Information', das von einem Schlagzeugsolo eingeleitet wird. Überhaupt, der großer Stärke des Kollektivs ist seine Größe. Jedes Instrument hat seinen Platz im Sound des Orchesters und darf darüber hinaus in zahlreichen Solo-Ausflügen glänzen. Wie sie in diesem Stück zusammen wirken, kann aber höchstens mit dem Titel erklärt werden. Über mehrere Minuten spielen die Instrumente aufgeregt und dissonant durcheinander. Adorno wäre begeistert, für mich tanzt es um die Grenze zur Kakophonie. Schlüssiger funktioniert das Konzept später im Song, wenn die Dissonanz aus dem Auftragen verschiedener Schichten entsteht. Der Abschlussepos 'Interferenz' gefällt da um einiges besser, weiß mit laut und leise zu spielen, überrascht immer wieder mit neuen Wendungen bis zum Schluss schließlich die Dunkelheit von einer entspannten Urlaubsstimmung erhellt wird. Erst jetzt darf der Hörer durchatmen und sich fragen, was er da gerade eigentlich durchgemacht hat.

FAZIT: Scheuklappen und das JAZZORCHESTER VORARLBERG vertragen sich nicht. "Morphing" ist der Versuch der Verquickung von Tradition und Moderne und nimmt dabei auf niemanden Rücksicht. Die Stücke sind lang und anstrengend, aber auch detailreich und in der Regel hochwertig komponiert. Ab und an überspannt das Team aber etwas den Bogen und überschreitet die Grenze zum Missklang. Zwar ist das so gewollt, der Sinn dahinter erschließt sich mir aber nicht immer. Die Musik ist leider nicht immer so visionär, wie es wohl geplant war, trotzdem kann man sich über einige mutige Ansätze und kluge Synapsenreizer freuen. Außerdem bleibt festzuhalten, dass das 15-köpfige Orchester es schafft seine unbändige Spielfreude auf CD zu bannen.

P.S.: Leider passen nicht alle Musiker in die Zeile "Other instruments". Bitte schaut bei Interesse auf der Website des Orchesters vorbei.

Punkte: 10/15

Erschienen auf www.musikreviews.de am 25.06.2014

Tracklist

  1. Shape Shifta
  2. Alp Edo
  3. Wimmelbild
  4. Les Salces
  5. Information
  6. Interferenz

Besetzung

  • Sonstiges

    siehe Website

Sonstiges

  • Label

    Jazzwerkstatt Records

  • Spieldauer

    55:06

  • Erscheinungsdatum

    01.05.2014

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