Zurück

Reviews

Le Mur: In Tenebris

Stil: Moderner Krautrock des 21. Jahrhunderts

Cover: Le Mur: In Tenebris

„In tenebris errare!“
Oh, bitte, lasst mich nicht „im Dunkeln tappen“ - aber dieses Album, das sich in seiner ganzen weißen Colour-Vinyl-Schönheit auf meinem Plattenteller dreht und von seiner musikalischen und textlichen Aussagekraft her im Grunde rabenschwarz sein müsste, versetzt mich nicht nur musikalisch und optisch in Verzückung, sondern gibt mir und garantiert jedem sich auf diese Musik einlassenden Hörer zugleich eine Unmenge von Rätseln auf. Kein Wunder also, dass „In Tenebris“ mit dem finsteren Omen eines Rätsels in der Dunkelheit endet.
Warum nur bin ich jetzt schon am Ende, wo ich doch noch nicht einmal beim Anfang war, der ebenfalls mit einem Omen beginnt, das genauso finster wie die Nacht daherkommt?
Fragen über Fragen?
Ein Tappen im Dunkeln hin ins weiße Vinyl-Licht eines Albums, dessen lateinischer Name übersetzt „Während der Nacht“ heißt!

Nein! Nein! Nein!
Ich weiß wirklich nicht, wie ich diese Kritik zu einem der ungewöhnlichsten Alben, das ich in meiner jahrelangen Kritikertätigkeit in den Händen halten durfte, beginnen soll!
Mit einem Rückblick?
Einem Rückblick, der im Grunde eine Vorschau ist, auch wenn er chronologisch betrachtet ein Rückblick sein muss?
Seltsame Worte, nicht wahr?
Genauso seltsam wie eben „In Tenebris“, das allem Anschein nach wie die Lemuren direkt dem Totenreich entsteigt, in das man einst den verrückten Wissenschaftler Faust katapultierte, damit sich die LE MURen, diese höllischen Totengräber der besonders hässlichen Art, um ihn kümmern können.

Doch nun schreibe auch ich schon wieder in Rätseln, darum lassen wir vorab einfach die Tatsachen sprechen:
Die Bochumer Band - ein Trio der Extraklasse, genauso wie die Wirtschaft es sich wünscht und mag, nämlich jung und dynamisch - veröffentlichen mit „In Tenebris“ ihr Debüt-Album, welches ihrem 2013 erschienenen „Silentia Nova“ in diesen finsteren Novembertagen des Jahres 2014 folgt!
Äääääähhhhh? Ein weiteres Rätsel, das nach Aufklärung schreit, darum hier der Versuch einer Lösung im originalen Band-Wortlaut:
„‘In Tenebris‘ sollte 2011 bei einem englischen Label erscheinen. Die Briten verzögerten allerdings das Erscheinungsdatum um mehr als ein Jahr, was zur Auflösung des Vertrages führte. Währenddessen hatte aber die Band im eigenen Studio bereits das nächste Album aufgenommen, das thematisch an das erste Album anknüpft.“

Bereits nach dem ersten Hördurchgang von „In Tenebris“ muss man sich allerdings fragen, was die Briten bei dem namentlich nicht benannten Label an den Ohren hatten, um solchen bahnbrechenden, modernen Krautrock nicht umgehend mit allen Mitteln der musikalischen Wirtschaftskunst in die Öffentlichkeit zu zerren. Aber was soll‘s, die britischen Labelbosse sind ja spätestens seit „Tubular Bells“ dafür bekannt, dass sie selbst einem MIKE OLDFIELD mit seinem Jahrhundertalbum keine Chance gaben.
Nun also haben sie sich‘s auch mit LE MUR verkackt!
Und irgendwie habe ich im Urin, dass das ein großer Fehler war!

Eigentlich müssten wir, nachdem wir nunmehr mit „In Tenebris“ und „Silentia Nova“ bereits zwei LE MUR-Alben vorliegen haben, die bei LE MURs Veröffentlichungspolitik als strikt limitierte, nummerierte Farb-Vinyl-Ausgaben („In Tenebris“ = weißes Vinyl / „Silenta Nova“ = pinkfarbenes Vinyl sowie handschriftliche Nummerierung beider LP-Ausgaben) und natürlich auch als CD erscheinen, sofort erkennen, mit wie viel Liebe für jedes noch so kleine Detail das Bochumer Trio an seine Musik und das, was als physischer Tonträger am Ende dabei herauskommt, herangeht!
Aber wir müssten uns nunmehr auch fragen, welchen Namen wir dieser Musik geben, die mit solcher Leidenschaft entsteht, aber zugleich unglaublich schwer einzuordnen ist. Auch hierbei erhalten wir Hilfe seitens der Musiker, die ihren kleinen Musikplaneten, der eigentlich ein riesiges Universum sein sollte, als „Heavy-Dark-Trip-Rock mit Space und Prog-Einflüssen“ bezeichnen. Ja, das charakterisiert „In Tenebris“ und „Silentia Nova“ sehr genau - aber ist als Schublade viel zu lang gefasst.

Machen wir es kurz und nennen diese wundervollen Klänge einfach „Moderner Krautrock“, der AMON DÜÜL, BIRTH CONTROL oder POPOL VUH links wie rechts liegen lässt, aber dafür den leider viel zu unbekannten OUT OF FOCUS die Ehre erweist, welche diese mit ihrem Jazz- und Fusions-Rock-Universum (Da ist dieses Wort wieder!) seit gut 45 Jahren längst verdient hätten. Und mit diesem „Modernen Krautrock“ meine ich nicht etwa recycelte Klänge, die sich bei ihren Originalen anbiedern, sondern Kraut + Rock + Moderne = eine feste Verwurzelung, die in Form dieser Gleichung als Lösung das 21. Jahrhundert erobert.

Klanglich sieht diese Lösung aus LE MUR-Sicht folgendermaßen aus, wobei wir zuerst einmal dem eröffnenden „O.m.e.n.“ eine besondere Aufmerksamkeit widmen sollten, weil hier die vor Finsternis triefenden LACRIMOSA-Stimmung bereits ein verschmitztes Lächeln in sich trägt. Denn wer nun glaubt, wir würden uns schaurigen TILO WOLFF-Elaboraten eines todessehnsüchtig veranlagten Gothic hingeben müssen, der ist LE MUR tatsächlich sofort in die Falle oder besser den „Cage“ (Käfig) gegangen. Denn genau dort treffen die wahren Musik-Toten aufeinander, die plötzlich JIMI HENDRIX wiederbeleben, um ihn auf einen BLACK SABBATH mit fetten Bässen treffen zu lassen, damit sie im HAWKWIND ein KRAFTWERK errichten können, welches sich einem TANGERINE DREAM hingibt, der nicht nur der wahre NEKTAR guter Musik, sondern auch schwerer PSYCHEdelik ist. Wen verwundert es da eigentlich noch, dass mit HELMUT WENSKE ein Grafiker gefunden wurde, der nicht nur „Silentia Nova“, sondern auch die NEKTAR-Alben gestaltet hat?

LE MUR waren - das können wir auf „In Tenebris“ eindeutig hören - bereits mit ihrem ersten Album da angekommen, wo sie ankommen wollten, was aber ein britisches Label nicht zuließ. Auch ihr zweites (oder eben erstes deutsches) Album knüpfte übergangslos an dieser Qualität an, ohne zu diesem Zeitpunkt je die Gewissheit zu erlangen, ob dieser Schritt auch nur im entferntesten Aussicht auf musikalischen Erfolg haben könnte. Trotzdem ging es mutig dort weiter, wo bereits die (britischen) Bänder zerschnitten waren - bei einem Konzept, welches drei Alben umfassen sollte und erst jetzt in seiner ganzen Deutlichkeit offenbart wird.

Mit „In Tenebris“ erkennen wir, dass die Idee hinter der Musik von LE MUR rückwärtsgewandt ist. Zwar beginnt die vorgesehene Triologie - die mich irgendwie auch schon dadurch neugierig macht, dass sie ein deutsches TRIO(logie) erklingen lässt, mit dem den Anfang ankündigenden „Omen“, aber sie verfolgt zugleich extrem fest gezurrte Musik-Analogien, indem der dritte Song beispielsweise nicht auftaucht, sondern grundsätzlich als namen- und zahlloser Hidden Track „versteckt“ wird. Aber gerade dieser versteckte Titel bildet immer ein Bindeglied, mit viel Saxofon, ohne welches das Album gar nicht „leben“ könnte. Im ersten LE MUR-Teil eröffnen die Lemuren die B-Seite der LP, während sie bei „Silentia Nova“ die A-Seite abschließen. Kein Wunder, denn bei „In Tenebris“ trägt gerade dieser Titel die Angabe „Teil 3“, bei „Silentia Nova“ demnach „Teil 2“ und wird garantiert beim kommenden, die Triologie abschließenden Album „Teil 1“ tragen, der dann - steinigt mich, wenn dies nicht so sein sollte, unmittelbar nach „O.m.e.n.“ der zweite Titel sein wird. Alles Andere wäre unlogisch! Obwohl Unlogik ja der Treibstoff für guten Krautrock ist. Und diesen Treibstoff hat das Bochumer Trio wohl bereits mit der Muttermilch aufgesogen!

Natürlich ist auch der vorletzte Song wieder das dem jeweiligen Album seinen Namen verleihende Stück, bevor das letzte „O.m.e.n“ sich aus dem LE MUR-Universum verabschiedet. Und ich halte eine weitere Wette, dass die nächste Vinyl-Ausgabe, nachdem sie anfangs auf 500, dann auf 200 nun auf 100 farbige Vinyl-Ausgaben limitiert wird, wobei die dann vorgesehene Farbe auch für mich noch ein großes Geheimnis ist. Vielleicht grau?

Fakt aber ist, dass ich alle musikalischen Rädchen in Bewegung setzen werde, um auch diese limitierte Ausgabe zu erobern! Die Musik von LE MUR ist es wert, so hoch wertgeschätzt zu werden. Zum Glück haben das in Deutschland auch Tribal Stomp Records erkannt! Ja, in Deutschland sind die Ohren wohl zum Glück doch noch offener als im tauben England. Wenn Deutschland nach Superstars sucht, sind sie bei Dieter Bohlen, der einen MIKE OLDFIELD garantiert auch abgelehnt hätte, an der falschen Adresse. Doch es gibt auch deutlich bessere Musik-Adressen, die hinter der Musik und einer Band ein faszinierendes Gesamtkunstwerk entdecken und diesem eine echte Chance geben.

So können wir hoffen, vielleicht in gar nicht all zu langer Zeit des Rätsels endgültige Lösung - den dritten Teil der Platten-Trilogie LE MURs - in den Händen zu halten, um festzustellen, dass der Krautrock noch immer lebt und es eine Schande ist, dass wir den irgendwann mal aus den Augen verloren haben, statt ihn, wie in den 70er Jahren, auf einen Sockel zu heben, auf den besonders einfallsreiche, fortschrittliche Musik, die sich zu ihren Wurzeln bekennt, stehen müsste. Nicht WIR SIND HELDEN sollten wir ein Denkmal setzen, sondern LE MUR!

FAZIT: Wer glaubt, dass der Krautrock irgendwann mal viel zu früh das Zeitliche gesegnet hat, der sollte unbedingt LE MUR hören. Wenn er dann seine alten Krautrock-Platten wieder aus dem Schrank holt, wird er sogar feststellen, dass dieser moderne Krautrock dem Krautrock vergagener Zeiten nicht nur ebenbürtig ist, sondern ... aber halt, das endgültige Fazit hebe ich mir wohl doch besser bis nach der dritten LP von LE MUR auf!

Punkte: 13/15

Erschienen auf www.musikreviews.de am 21.11.2014

Tracklist

  1. O.m.e.n. - The Beginning
  2. ------------- Cage
  3. Ghost Track I (Hidden Track)
  4. One Way Ticket To Space
  5. Die Nacht der Lemuren (Teil 3)
  6. In Tenebris
  7. O.m.e.n. - Riddles In The Dark

Besetzung

  • Bass

    Janine Ficklscherer

  • Gesang

    Matthias Gräf

  • Gitarre

    Matthias Gräf

  • Keys

    Matthias Gräf

  • Schlagzeug

    Georgios Dosis

  • Sonstiges

    Matthias Graf (Saxofon und Sound-Effekte), Janine Ficklscherer (Sound-Effekte)

Sonstiges

  • Label

    Tribal Stomp Records / CARGO Records

  • Spieldauer

    48:20

  • Erscheinungsdatum

    07.11.2014

© Musikreviews.de