Wir schreiben das Jahr 2014 - ein historisches Datum, wenn man es auch mit dem Tag 9 und dem Monat 11 in Verbindung bringt - aber Vorsicht, ja nicht verwechseln, sonst gibt‘s mit dem Big Brother (Is watching you!) Ärger.
Vor genau 25 Jahren erlebte ich einen der glücklichsten, wenn nicht sogar den glücklichsten Tag meines Lebens.
Die Mauer fiel am 9. November 1989 und meine Gefangenschaft in einem Land, das Kafka in seinem „Prozess“ nicht hätte besser beschreiben können, war mit einem Schlag beendet. Genauso wie diese Gefangenschaft am 13. August 1961 mit einem Schlag begann, obwohl die wahren Täter nicht etwa die plötzlich Gefangenen, sondern die unerbittlichen, ideologisch-diktatorischen Gefängniswärter waren, endete sie auch wieder - leider mussten viele der damaligen Gefängniswärter nicht wirklich für das gerade stehen, was sie ihren unschuldigen Gefangenen oder ihren Opfern, die diese 28jährige Gefangenschaft nicht überlebten, angetan hatten.
Aber war die Geschichte wirklich jemals gerecht?
Jede Geschichte bringt aber auch Erlebnisse und Errungenschaften hervor, die ohne boshafte Diktaturen nie möglich gewesen wären. Das wusste bereits unser oller Goethe, der so schön formulierte: „Die schönsten Träume von Freiheit werden im Kerker geträumt!“
Genau darum soll diese Kritik, 25 Jahre nach dem Mauerfall entstanden, über eine Band und ein Album erzählen, die dem Kritiker ein wenig beim Überleben in der Gefangenschaft halfen und diese Gefangenschaft etwas erträglicher machte. Und noch viel mehr - sie schenkten mir die Hoffnung, die sich dann 20 Jahre später verwirklichte. Darum möchte ich mich jetzt mit meinen Lesern und LIFT auf eine „Meeresfahrt“ begeben, die an musikalischer Schönheit und persönlicher Dramatik kaum zu übertreffen ist.
Würde mich heute jemand fragen: „Welches ist die beste LP, die jemals in der DDR erschienen ist?“, dann kämen mir genau zwei Antworten in den Sinn: „Meeresfahrt“ von LIFT und „Weißes Gold“ von der STERN-COMBO MEISSEN! Zwei Alben, die mehr als eine Gemeinsamkeit haben, wobei die offensichtlichste allerdings der Sänger WERTHER LOHSE ist, welcher seine außergewöhnliche, charismatische und einzigartige, jederzeit wiedererkennbare Stimme beiden Alben verlieh.
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Diesmal soll die Rede von der LIFT-„Meeresfahrt“ sein und vielleicht erzähle ich die Geschichte zu „Weißes Gold“, der musikalischen Wunderleistung, die genauso schön ist, wie das besungene Meißner Porzellan, genau in einem Jahr, wenn die Mauer seit 26 Jahren nicht mehr verschlossen ist. Und wenn wir auch momentan fast die Schnauze voll haben von dem derzeit ständigen Gerede zu diesem Ehrentag, dann sollten wir neben dieser blödsinnigen Feierstimmung nicht vergessen, wie viel Leid, aber auch wie viel Kreativität diesem Ereignis innewohnt.
Das Jahr in dem die „Meeresfahrt“ entstand - 1979 - war eins der finstersten kalten Kriegsjahre, in dem Beschlüsse getroffen wurden, die jede Veröffentlichung ostdeutscher Schriften beim Klassenfeind im Westen als „staatsfeindliche Hetze“ im Strafrecht definierten und der DDR-Schriftstellerverband gleich neun Schriftsteller ausschließt, von denen STEFAN HEYM der heute noch bekannteste ist. Der DDR-Kultur bläst ein extrem eisiger Wind ins Gesicht und Musiker sowie Literaten sind gezwungen, noch geschickter zwischen den Zeilen zu schreiben. Jeder Text ging durch die Zensur - und deshalb kam es neben dem, was schwarz auf weiß zu lesen war, besonders auf die Botschaften an, die sich hinter dem Offensichtlichen verbargen. Wir mussten im Osten das Zwischen-den-Zeilen-Lesen lernen, die Botschaften erkennen, die alle Zensoren nicht erkannten, oder weil sie nicht zu offensichtlich waren, einfach nicht begründet verbieten können. Worte wie Freiheit, Demokratie, Mauer, Flucht usw. waren sowieso strikt in den Texten verboten - außer natürlich man brachte sie mit anderen Ereignissen in Verbindung als mit der DDR!
Genau in diesem Jahr also taucht aus tiefer Versenkung die „Meeresfahrt“ auf, welche ein Stück, das nicht etwa den Titel „Nach Westen“, sondern „Nach Süden“ heißt, enthält. In ihm geht es um einen Jungen, der seinem Elternhaus „entflieht“, um wie die Zugvögel „Nach Süden“ zu ziehen und „Hinter dem Hügel / Da wuchsen mir Flügel / Um vor dem Winter abzuhau‘n!“. Wer diese Zeilen in der DDR hörte, wusste sofort, um welche Flucht es sich hier im Grunde handelte!
Doch nicht nur das - auch der Song war von seiner Melodie, dem Gesang, einfach allem, ein Ohrwurm, den man - einmal gehört - wohl nie wieder vergisst und mit solchen Titeln wie KARATs „Albatross“, CITYs „Am Fenster“, STERN-COMBO MEISSENs „Kampf um den Südpol“ auf einer Stufe steht!
Nimmt man allerdings ein einziges Mal nur das gesamte Album zur Hand - am besten natürlich noch als AMIGA-LP, dann wird man, diese Garantie gebe ich hier mit Brief und Siegel, sein eigenes kleines Déjà vu erleben. Egal ob man nun vor seinen Lautsprecherboxen im Osten oder im Westen sitzt.
Als erstes muss man aber seine Enttäuschung überwinden, die sich bei mit „Wir fahrn übers Meer“, der schwächste Song, der auch noch der Opener der LP ist, breit macht. Textlich und musikalisch geht dieser Einstieg rundum schief - aber wer die Geschichte hinter „Meeresfahrt“ kennt, der wird auch verstehen, warum sich dieser eigentlich überflüssige Titel auf dieser 79er LP einschlich. Womit wir auch bei der Tragik hinter diesem Album wären. Der von HENRY PACHOLSKI komponierte und gesungene Song gehörte zu seinen endgültig letzten und war nun auf „Meeresfahrt“ post mortem erschienen. Bei der Rückfahrt von einem Konzert in Kalisz (Polen) kam es zu einem tragischen Verkehrsunfall. Hinter dem Steuer saß Keyboarder MICHAEL HEUBACH - er überlebte, seine beiden Mittfahrer, Sänger HENRY PACHOLSKI und Bassist GERHARD ZACHER, aber hatten keine Chance. „Am Abend mancher Tage", das traurigste Lied, welches je in der DDR entstand, verarbeitete dieses tragische Ereignis dann auf musikalisch schwer beeindruckende LIFT-Weise.
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Alles aber, was dann auf der „Meeresreise“ folgt, ist legendär und für die Ewigkeit!
„Nach Süden“ fliehen wir mit Ohrwurmmelodie, einem Zwischen-den-Zeilen-lesen-Text und einer Gesangslinie, die vielen Sängern auch heutzutage noch vokale Schwerstarbeit abverlangt.
„Scherbenglas“ und „Sommernacht“ sind akustische Balladen, die so tief gehen, dass einem die Tränen in die Augen steigen, weil sie ein Gefühl von Abschied vermitteln, das man nicht nur hört, sondern mit jeder Note und jedem Wort genau an der Stelle spürt, mit der man laut dem Kleinen Prinzen am besten sehen - und ich ergänze: „Auch hören!“ - kann!
Unzweifelhafte Höhepunkte aber sind die beiden Prog-Rock-Epen „Meeresfahrt“ und „Tagesreise“!
Beides Prog, aber zwei völlig unterschiedliche Spielarten!
Die „Meeresfahrt“ ist eine getragene, hymnische 16minutige Suite, neoprogressiv mit zarten Einsprengseln von Querflöte, Klarinette und Saxofon. Ein musikalischer Genuss wie eine Fahrt über‘s Meer, voller Schönheiten, aber ohne bedrohliche Stürme. Trotzdem voller Spannungs- und Stimmungswechseln. Ein unvergleichliches Kunstwerk, welches den heutigen Neo Prog aus aller Welt mit seiner kleinen DDR-Nische fast in den Schatten stellt.
Die „Tagesreise“ dagegen ist eine Coverversion von außergewöhnlicher Qualität, selbst wenn der ursprüngliche Titel von der HORST KRÜGER BAND auch schon außergewöhnlich bewundernswert war! Die LIFT-Version wird von bombastischen Orgeln und Bläsereinlagen bestimmt, die zugleich mit ein paar Mellotron-Erinnerungen an das legendäre „How The Gypsy Was Born“ von FRUMPY erinnert. Grandios und wieder so wert- und klangvoll wie kaum ein anderes Musikstück, welches in der DDR das Licht durch die Gitterstäbe der Gefangenschaft erblickte. Gleichzusetzen mit den legendärsten Prog-Epen dieser Zeit, wie ELECTRAs „Tritt ein in den Dom“, STERN-COMBO MEISSENs „Finlandia“, oder dem noch viel zu selten beachtete Prog-Longtrack „Zeit“ der Gruppe WIR!
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Ja, das war sie also, die „Meeresfahrt“ von LIFT!
Für mich die musikalische Fahrstuhlfahrt ins Glück, welche vor und hinter der Mauer nie etwas von ihrem wahren Reiz verloren hat!
FAZIT: Die (DDR-)Geschichte des Albums "Meeresfahrt" ist einerseits eine zutiefst beeindruckende, aber andererseits auch eine zutiefst tragische. Beeindruckend, weil mit dieser LP eines der größten Prog-Rock-Werke zu DDR-Zeiten geschaffen wurde und tragisch, weil kurz vor ihrer Veröffentlichung der Sänger und der Bassgitarrist dieser Band bei einer Fahrt zu einem Konzert tödlich verunglückten. Dass beide Musiker wohl einen außergewöhnlichen Einfluss auf die Band hatten, wurde durch die Tatsache bewiesen, dass nicht ein Nachfolgealbum jemals die Qualität von "Meeresfahrt" wieder erreichen konnte.
Punkte: 14/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 09.11.2014
Gerhard Zachar (?)
Henry Pacholski (?), Werther Lohse
Wolfgang Scheffler, Michael Heubach
Frank-Endrik Moll, Werther Lohse
Till Patzer (Flöten, Saxofon und Klarinette)
Amiga / Buschfunk
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09.11.1979