Vor langer, langer Zeit in einem längst nicht mehr existierenden Land wurde ich von jeder Form von Musik angesteckt, die irgendwie progressiv klang. Die Stücke mussten einfach nur verspielt, nach Möglichkeit experimentell und vor allem lang sein.
Das reichte vorerst.
Dann aber sehnte ich mich mehr als nach Stimmen plötzlich auch noch nach klassischen Instrumentalpassagen, deren Ursprünge in der „wahren“ Klassik lagen, egal ob die Klassiker aus Russland, Deutschland, Finnland oder sonstwoher kamen!
Viel später erfuhr ich dann, dass man sowas eine Adaption nannte.
Alles egal - ich wollte Klassik + Rock = Klassik-Rock.
Für mich damals die musikalische Verbindung von Intellektuellem und Revolutionärem. Musik, die echt war und echt klang - in einem Land, wo jede andere Musik, die nur drei Textzeilen enthielt, durch die Zensur musste und dort meist nie so wieder heraus kam, wie sie zuvor hineingekommen war.
Plötzlich gab es Entdeckungen im Osten, die im Westen kein Schwein kannte. Beim „Klassenfeind“ nannte man solche Musik nämlich Art-Rock und die ganz großen Namen waren EMERSON LAKE & PALMER, EKSEPTION und SKY. Auch ihre rockigen Klassik-Adaptionen waren ganz groß(artig)! An die kam man aber leider, gefangen hinter dem „Antifaschistischen Schutzwall“, nur sehr schwer heran.
ELP mit Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ - nicht zu bekommen oder nicht zu bezahlen, außer man war bereit, seinen Arbeitslohn für eine ganze Woche in eine ELP- oder EKSEPTION-LP zu investieren.
Verblüffend und urplötzlich dann die Erkenntnis, dass in gänzlich gleicher musikalischer Qualität auch im Osten Musik auftauchte, die allerdings Kunst-Rock genannt wurde, aber locker auf einer Stufe mit ELP, EKSEPTION oder SKY stand.
Diese „Zonen-Bands“ allerdings hießen ELECTRA, STERN-COMBO MEISSEN und als ganz besonderer Leckerbissen aus der Tschechoslowakei COLLEGIUM MUSICUM! Und egal ob nun der „Säbeltanz“, „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“, „Finlandia“, „Die vier Jahreszeiten“ oder „Bach-Refugien“ - alles bekamen wir in bester Art-Rock-Qualität auch innerhalb der uns so verhassten Mauer geboten.
Genau an diese Zeit und diese Musik muss ich denken, wenn ich von NEUZEIT (Gibt‘s einen besseren Namen für eine Band, wenn man die Zeilen zuvor gelesen hat?), einem deutschen Trio, bestehend aus Schlagzeug, Bass und Tasteninstrumenten, die „Carmina Variations“ höre. Aber auch die polnischen Artrock-Legenden NIEMEN und SBB kommen mir sofort in den Sinn, welche auch gerne in gleicher Besetzung mit Bass, Schlagzeug und Keys Kunst-Rock regelrecht zelebrierten.
Endlich ist es wieder da - dieses Musik-Gefühl!
Genau für die Musik, die mir in meiner Jugendzeit bewies, dass Klassik auch wunderschön sein konnte, wenn man sie nicht als tristen Schulstoff vermittelte, sondern als Band mit einem Rockinstrumentarium aufpeppte und neu interpretierte, ohne sie ihrer unverkennbaren Eigenständigkeit und Schönheit zu berauben. Genau in diesem Sinne musizieren auch ANDREAS HIRSCHMANN, der sogar Mitglied von HÖLDERLIN war, der Echo-Preisträger und DICK BRAVE-Schlagzeuger MARTELL BEIGANG sowie Bassist THOMAS FALKE!
Hier nun haben sie sich von Carl Orff die „Carmina Burana“ vorgenommen. Fast unglaublich, dass ein Trio solche Herausforderung meistern könnte.
NEUZEIT aber kann, denn sie klingen, wie bereits in der Presse festgestellt, „wie ein ganzes Symphonieorchester“, deren „Tun nahe am Sakrileg“ ist, weil sie „einen genialen Pop-Jazz-Klassik-Cross-Over“ zustande bringen, der „mal swingend, mal groovig, mal drum‘n‘bassig, mal fast technoesk - immer ernsthaft, aber sicher nicht ohne Humor“ klingt.
Wer glaubt, dass solch euphorischen Kritiken übertrieben sind, der irrt und schaue schleunigst <a href=" https://www.youtube.com/watch?v=L-1K8BpVCb4#t=32 " rel="nofollow">dieses Video</a> an!
Wenn noch die eine oder andere zu sehr in die Länge gezogene (Jazz-)Passage ein bisschen mutiger adaptiert worden wäre, dann könnten diese „Carmina Variations“ genau so ein Klassiker sein wie das orffsche Ur-Werk!
FAZIT: Eine großartige Adaption eines großartigen Werkes von einem großartigen Trio!
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 11.11.2014
Thomas Falke
Martell Beigang, Andreas Hirschmann, Thomas Falke
Andreas Hirschmann
Martell Beigang
UNIT Records
59:24
17.10.2014