Gleich im ersten Song kündigen A.TRIBE an, was sie mit uns vorhaben: „I‘m gonna hypnotize you!“
Eine große Aufgabe, die sie sich da vorgenommen haben - aber wer sich bewusst auf diese Stunde Musik einlässt, wird vielleicht genau das empfinden und sich hypnotisiert zu seinem CD-Player bewegen, um per erneutem Playtaste-Druck diese Musik-Hypnose zu wiederholen.
Woran liegt das nur?
Wahrscheinlich daran, weil „Trangible“ eine Art Pop-Album einer reinrassigen Jazz-Band geworden ist. Hier beherrschen vier Musiker ihre Instrumente punktgenau und eine Sängerin spielt mit ihrer Stimme in den unterschiedlichsten Stimmlagen, welche sie allesamt beherrscht.
Die Musik von A.TRONIC will in keine Schublade passen und verweigert sich überhaupt jeglicher Schemata. Oder zimmern wir für diejenigen, denen Schubladen noch immer so wichtig sind, einfach eine neue und nennen sie „Jazz-Pop“. Das trifft‘s wohl am ehesten und ist trotzdem nicht aussagekräftig genug bei allen weiteren Einflüssen, die „Transible“ durchdringen: Funk, Singer/Songwriter, sogar etwas Prog und ein paar seltsame elektronische Experimente. Oder wie die Band es selber ausdrückt: „Wr sind glücklich zwischen den Stühlen.“
A.TRONIC ist das musikalische Kind des Bassisten ANDRÉ NENDZA, der bereits vor 13 Jahren mit diesem elektro-akustischen Ensemble und der CD „Lichtblau“ für Aufsehen sorgte, da das Album im Deutschlandfunk zu einem der wichtigsten des Jahres 2002 gewählt wurde. Allerdings dominierte während dieser Zeit deutlich der Jazz-Anteil, dem nach und nach immer mehr poppige Einflüsse verliehen wurden. Das aktuelle Album ist nun auf dem Höhepunkt der Fusion aus Jazz und Pop angekommen und Band-Kopf Nendza verblüfft zusätzlich noch dadurch, dass er nicht nur ein hervorragender, bereits Echo-prämierter Jazz-Bassist und Komponist, sondern auch ausgezeichneter Texter und Pop-Melodien-Schreiber ist. Melodien, welche Sängerin FRANZISKA LOOS dann mit ihrer Stimme veredelt. Das Verflixte an diesem Album ist eben letztendlich, dass es so extrem zwischen den Stühlen sitzt, dass die „Auf-den-Stühlen-Sitzer“ garantiert ihre Probleme damit bekommen, weil es denen auf dem Jazz-Stuhl viel zu poppig und denen auf dem Pop-Stuhl viel zu jazzig sein wird. Bei „Tangible“ ist wahrhaft musikalischer Freigeist und ein nicht zu breit gesessener Musik-Arsch gefordert.
Betrachten wir einfach den schönsten Song des Albums - zumindest aus Sicht des Kritikers. „Envy (I Hate That Name)“ ist eine traurige Ballade voller Tiefgang, die sich auch locker auf einem SUZANNE VEGA-Album genau neben „Luka“ oder „The Queen And The Soldier“ unterbringen lassen würde. Nur dass eben nicht wie bei der Vega eine Kombination aus Singer/Songwriter plus Pop plus Folk plus ausgezeichnetem Text daraus entsteht, sondern das „Folk“-Element durch Jazz ersetzt werden muss. Vom Text her wird ähnlich wie in „Luka“ die traurige Geschichte aus Sicht eines Kindes erzählt, das zwar nicht geschlagen, dafür aber in seiner Familie benachteiligt wird („I have a sister they all favor over me / And I don‘t mind cause I love her wholeheartedly.), was seine Psyche fast zerstört und dazu führt, dass es deswegen seinen Namen Envy abgrundtief hasst („You call me Envy / Envy‘s my name / I hate that name!“). Ähnlich wie bei „Envy“ wird auch in jedem weiteren Song des Albums ein bewegende Geschichte erzählt, deren Stimmung ideal durch Komposition und musikalische Instrumentierung umgesetzt wird.
Die offensichtliche Liebe der Musiker zu ihrem Album steckt übrigens in jedem noch so klitzekleinen Detail - egal ob es die hervorragende Klangqualität oder das sehr liebevoll gestaltete Digi-Pack mit eingeheftetem Booklet ist. Hier wurde wirklich nichts dem Zufall, dafür aber vieles dem Hang zur Perfektion überlassen. So entstand mit „Tangible“ auch ein Album, welches sich garantiert noch nicht beim ersten Hördurchgang erschließt, einen aber sofort hypnotisiert. Erst nach und nach nimmt es einen gefangen, wie eine Musik-Tiefen-Hypnose, die sich viel Zeit lässt, um den Hörer endgültig zu verzaubern. Wenn das gelingt, dann lässt „Tangible“ einen nicht mehr los, weil es eben für die Einen vielleicht nur zu einem speziellen, für die Anderen aber zu einem ganz besonderen Album werden wird!
FAZIT: Wenn Jazz und Pop - die sich aus Sicht so vieler „Musikexperten“ untereinander nicht ausstehen können - plötzlich zu liebevollen, sich gegenseitig ergänzenden, aber nichts vorwerfenden, dafür umso zärtlicheren Musik-Geschwistern werden, dann ist das der eindeutige Verdienst von A.TRONIC.
Wer traut sich, darauf einzulassen?
Hoffentlich wenigstens diejenigen, welche in dieser kalten Jahreszeit statt einem Brett vorm Kopf und ein paar Stöpseln in den Ohren heimlich ihr „Ich bin ein Freigeist“-T-Shirt unterm Rollkragen-Pullover tragen.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 30.11.2015
André Nendza
Franziska Loos
Markus Segschneider, Andreas Wahl
Ulf Stricker
PopSick Records
59:34
03.10.2015