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Blind Guardian: Beyond The Red Mirror

Stil: Heavy Metal

Cover: Blind Guardian: Beyond The Red Mirror

Wer wirklich wissen will, was es mit einem neuen Album auf sich hat, der verlässt sich natürlich nicht auf Onlineportale wie musikreviews.de oder gar auf Printmagazine, bei denen sich Redakteure in Vollzeitbeschäftigung ausschließlich mit Heavy Metal beschäftigen. Nein, die wahre Qualität eines Albums wird dort fachmännisch und eloquent analysiert, wo ausschließlich Komponisten und versierte Musiker auf vielhundertfache Semester Musikwissenschaft treffen: In Internet-Foren.

Ein paar Beispiele gefällig, was sich – alles selbstredend weit vor dem offiziellen Release von BLIND GUARDIANs zehntem Studioalbum „Beyond The Red Mirror“ geschrieben – in den bevorzugt von Grammy-Gewinnern und Musikproduzenten genutzten Foren findet?

- „Der ganze Orchesterquatsch ist komplett jenseits deren Möglichkeiten und gehört schnellstmöglich wieder vergraben. Hört euch mal eine John Williams-Orchestrierung an und dann mal das BG-Zeug. Das ist C-Jugend Krefeld gegen Championsleague, da ist das Spiel nach fünf Minuten chancenlos vorbei.“

- „alles beim alten: keine power, keine hymnen, keine gänsehaut. hört sie euch schön, ich brauch kein gefuddel einer satten band, die es nicht mehr kann/will“

- „Was regt Ihr Euch alle über den Sound auf? Der Song an sich ist scheiße und kann nix! Der Sound ist dabei wirklich nebensächlich!“

- „Habe den Opener grad gehört. Wasn das Bitte???? Rammstein?“

- „Ist das wirklich die Band, die ‚Tales...‘ und ‚Follow...‘ aufgenommen hat? Fürchterlich... sinnloses Gedudel, schrottige Gesangslinien, schmieriger Refrain und als Krönung komplett tot produziert.“

- „Anscheinend hat die Band kein Vertrauen mehr zu den eigenen Kompositionen, ansonsten müsste man die Songstrukturen nicht hinter dieser klebrigen Sound-Masse verstecken.“

- „Schon lange nicht mehr so einen völlig gesichtslosen, aufgeblähten , überproduzierten, völlig verschachtelten, nichtssagenden ausdruckslosen und langweiligen Müll gehört.“

- „Musikalische Vollrotzpisse im aufgeblähten nichtssagend Gewand.“

Dass hier und da ein paar Rechtschreibprobleme offenkundig werden, sollte man nicht zu hoch bewerten, da sicherlich das Anhören eines auf Youtube veröffentlichten Vorabsongs oder Studiotrailers kaum noch in den vollen Terminkalender (ein typischer Tag: 08.00 – Gitarrenstunde für John Petrucci über Skype geben, 10.15 – Brian May wegen Tantiemen für alte Queen-Songs anrufen, 12.30 – Mittagessen mit Jon Oliva [Arrangements für Trans-Siberian-Orchestra überarbeiten!], 15.00 – Briefing für Andy Sneap wegen neuer Studiotechnik, 20.00 – Bandprobe mit Meshuggah) passt. Aber, nehmen wir es einfach dankbar zur Kenntnis, dass man sich einfach mal die 25 Sekunden Zeit genommen hat, anhand eines einzigen, über Computer-Boxen gehörten Songs, ein über 65 Minuten langes, hochkomplexes Album in seiner Gänze erfassen, analysieren und bewerten zu können.

Ok, jetzt mal im Ernst.

Der größte Kritikpunkt an „Beyond The Red Mirror“ zuerst: Der Sound, zumindest der der Promo-MP3s, ist zumindest merkwürdig. Steril, kühl, komprimiert, wenig luftig. Insbesondere die Gitarren verströmen stellenweise eine unangenehme Leblosigkeit, die Drums klackern künstlich, die Becken sind streckenweise kaum mehr als ein permanentes Zischen. Etwas weniger High-Tech, dafür mehr Gefühl würde dem Album gut tun. Wenn dann, wie im Opener „The Ninth Wave“, noch elektronische Klänge dazukommen (die, das aber nur am Rande, nur ein komplett Ahnungsloser mit RAMMSTEIN in ein Boot setzen würde), braucht man als Traditionalist tatsächlich starke Nerven.

Aber: Es lohnt sich. „The Ninth Wave“, der neuneinhalb Minuten lange Opener und sperrigste Song des Albums, hat auch nach mehr als 30 Durchgängen nicht in Gänze gezündet, verfängt sich nach dem atmosphärischen Intro in ein paar Widerhaken, die sich einfach nicht lösen wollen. Das erledigen allerdings dann die anderen Songs des Albums deutlich schneller: „Twilight Of The Gods“, das vorab ausgekoppelt wurde und durchaus konträre Meinungen produzierte (s. o.), schlägt mit seinen vielen Stimmen einen Bogen zurück zu Alben wie „Imaginations From The Other Side“ – ein Eindruck, der sich im Laufe des Albums noch einige Male wiederholen wird. Was allerdings nicht heißt, dass „Beyond The Red Mirror“ der lange verschollene Nachfolger dieses Meilensteins ist – BLIND GUARDIAN wären nicht BLIND GUARDIAN, wenn sie sich nicht auch mit diesem Album zumindest ein Stück weit wieder neu erfunden hätten.

Musikalisch sind die Krefelder längst über jeden Zweifel erhaben, klingen wie keine zweite Band, schaffen es dabei, die anspruchsvollen Songstrukturen in jedem Song mit einem einprägsamen Refrain zu veredeln, der als Steigbügelhalter dient, das Album als Ganzes aufzunehmen. Jeder Song – vielleicht mit Ausnahme der spröden Piano-Ballade „Miracle Machines“ – glänzt mit überraschenden Wendungen und Drehungen, zieht in punkto Abwechslung stets ein fettes Ass aus dem Ärmel. An mancher Stelle („At The Edge Of Time“, „The Throne“) übertreibt man es allerdings mit dem Spuren-Massaker. Zwar mögen die Orchester-Arrangements qualitativ an der Spitze der Branche stehen, doch würden die Songs auch mit deutlich weniger Bombast (und Ballast) funktionieren. Glücklicherweise nehmen die Kompositionen immer wieder deutlich an Fahrt auf („Ashes Of Eternity“, das im Guardian-Kosmos fast schon straighte „The Holy Grail“ mit der deutlichsten „Imaginations“-Schlagseite), sollten so auch jedem alteingesessenen Fan überzeugen, der mit den teilweise (zu) überladenen und progressiv-verschachtelten Alben nach „Nightfall“ nicht mehr wirklich warm wurde.

Eines noch am Rand: Mit „Grand Parade“ beschließt ein weiterer Neuneinhalbminüter das Album, und warum es BLIND GUARDIAN hier schaffen, den Song durch und durch warm klingen zu lassen und den Rest nicht, bleibt komplett rätselhaft. Der Song strahlt eine Positivität aus, die an mancher Stelle zuvor statt der distanzierten Kühle und der schroffen Härte ebenfalls angebracht gewesen wäre.

FAZIT: Wie man „Beyond The Red Mirror“ im Gesamtkatalog der Band einsortieren muss, bleibt abzuwarten. Fest steht jedenfalls, dass BLIND GUARDIAN nicht mehr den Fehler begehen, ihre musikalischen Fähigkeiten zu sehr in den Vordergrund zu stellen. Mancher Part hätte auch auf früheren Alben bestens funktioniert – ohne dass die Fantasy Metaller dabei zu sehr ins Selbstzitat abdriften würden. Leicht gemacht haben es sich BLIND GUARDIAN in den letzten Jahren ohnehin nicht; statt langwieriger Songwriting- und Aufnahmeprozesse, die Kraft gekostet und Geld verschlungen haben, hätte man auch den einfacheren Weg gehen können und regelmäßig einen Mix aus „Nightfall In Middle-Earth“, „Imaginations From The Other Side“ und „Somewhere Far Beyond“ veröffentlichen können. Diese Alben bleiben, ebenso wie die frühe Schaffensphase der damaligen reinrassigen Speed Metaller, wohl auf ewig unerreicht. Das wäre auch gar nicht der Anspruch BLIND GUARDIANS – und man kann sich sicher sein: Wenn sie diesen Weg eingeschlagen hätten, würden die Einträge in den Internet-Foren dieser Welt kaum anders aussehen als heute.

Punkte: 12/15

Erschienen auf www.musikreviews.de am 27.01.2015

Tracklist

  1. The Ninth Wave
  2. Twilight Of The Gods
  3. Prophecies
  4. At The Edge Of Time
  5. Ashes Of Eternity
  6. The Holy Grail
  7. The Throne
  8. Sacred Mind
  9. Miracle Machine
  10. Grand Parade

Besetzung

  • Gesang

    Hansi Kürsch

  • Gitarre

    André Olbrich, Marcus Siepen

  • Schlagzeug

    Frederik Ehmke

Sonstiges

  • Label

    Nuclear Blast

  • Spieldauer

    65:20

  • Erscheinungsdatum

    30.01.2015

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