„Extrahiere die Schönheit und Reinheit des Schmerzes, erkenne die Anarchie der Vergänglichkeit und du wirst „Madeleine Effect“ verstehen!“
Uff, das klingt nach starkem Tobak, den uns Bandchef und Hobbyphilosoph Simon Moskon hier vorsetzt. Vielleicht wollte er mit dem Eigenzitat im Booklet von CRYPTEX' zweitem Album auch gegen seine literarische Inspiration anstinken? Profan ausgedrückt ist der Madeleine Effekt nämlich die Erinnerung an Kindheitserlebnisse durch Sinneseindrücke in der Jetztzeit. Die Idee der musikalischen Umsetzung dürfte wohl 2013 erfolgt sein, denn damals wurde der hundertste Geburtstag von Marcel Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ gefeiert, in dem die Hauptfigur eben jenes beschriebene Phänomen beim Verzehr eines Madeleine-Gebäcks hat.
Die Absicht der Band, Musik zu schreiben, die den Hörer in derartige Zustände versetzt, scheint recht aussichtslos, sind mit den Erinnerungen doch oft Klänge oder Lieder verbunden, von denen es auch in der Vergangenheit schon unzählige gab. Neue Musik ist da ein schlechter Trigger, und so löst „Madeleine Effect“ bei mir in dieser Hinsicht gar nichts aus. Da erscheint es schlüssiger, in den zwölf Nummern bestimmte Situationen oder Erlebnisse zu beschreiben, die jemand im Madeleine Effekt durchlebt.
Das wiederum ist ein gefundenes Fressen für CRYPTEX: Die Band aus Salzgitter inszeniert jedes Mal kleine Szenen, die stark an Musicalsongs erinnern. Dazu trägt auch die Instrumentierung bei, in der Klavier und der rockuntypische, eher gospelhafte Chorgesang dominieren. Diesem Soundbild als Grundlage bleibt das Quartett treu, es scheint hier nach dem experimentierfreudigeren Debüt seinen Stil gefunden zu haben. Das bedeutet aber auch, dass „Madeleine Effect“ sich immer in familientauglicher Härte bewegt, und für die selbstgewählte Stilbezeichnung „Progressive Folk“ geht die Vielfalt nicht weit genug. Den sparsam verwendeten Sonderinstrumenten bleibt es damit verwehrt, jeweils eine spezielle Atmosphäre zu erzeugen.
Das sagt natürlich nichts über die Qualität der Songs aus. Hier erweist sich CRYPTEX immer wieder der großen Musicalkomponisten als würdig und bieten durchdachte, abwechslungsreiche Lieder, die oft mit netten Details aufwarten und mit verschiedenen stilistischen Einflüssen spielen. An „When The Flood Begins“ gefällt der überraschende Walzer am Ende und „Romper Stomper“ sticht als flotte Akustiknummer mit Cajón heraus. „Orange Blossom City Girl“ ist CRYPTEX' Version von „Sweet Home Alabama“ und „Melvins Coolercoup“ entwickelt sich dank des schrägen Mittelteils zum gut inszenierten Alptraum.
Der hymnische Bombast-Stil findet mit QUEEN, frühneunziger AEROSMITH und GUNS'N'ROSES auch Anknüpfungspunkte in der Rockmusik. Damit ist auch die Rolle des Frontmanns gemeint. Simon Moskon setzt seine Stimme theatralisch und extrem vielseitig ein und kann vor allem bei kräftigen Refrains in Mittellage punkten. Die mehrstimmigen Gesänge sind auf ähnlich hohem Niveau. Was jedoch nervt, ist die zur Schau getragene Rockstarattitüde. Gesang ist fast immer zu hören, gut ein Drittel davon allerdings nur als „Whohohoho“ oder „Whahahahaha“, auch viele Zeilen nehmen so ein überdramatisiertes Ehendehee. Dazu kommen immer wieder Anfeuerungen an die Band, die höchstens bei Livekonzerten etwas zu suchen haben. Auf Platte ist das nicht nur völlig unnötig, es verdichtet den Sound noch mehr, so dass viele nette Details von Keyboards und Gitarren nur schwer wahrnehmbar sind.
FAZIT: Insgesamt überwiegt bei „Madeleine Effect“ aber ein positiver Eindruck. CRYPTEX machen Gute-Laune-Musik mit dem Pathos einer farbenprächtigen Bühnenshow und anspruchsvollen Songs (an dieser Stelle sei auch das aufwändige Booklet erwähnt, das zeigt, wie ernst die Band ihren Job nimmt). Da CRYPTEX aber auf den finalen Wumms verzichten, ist es schwer, hier eine generelle Zielgruppe auszumachen, doch das ist bei Musicals ja nicht anders.
Punkte: 11/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 06.05.2015
Marc Andrejkovits, Simon Moskon
Simon Moskon
André Jean Henri Mertens, Marc Andrejkovits
Simon Moskon
Simon Schröder
Marc Andrejkovits, André Jean Henri Mertens, Simon Moskon, Simon Schröder
SAOL
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24.04.2015