Kurze Geschichtsstunde für Spätgeborene: Kenn Nardi war Sänger, Gitarrist und Vordenker von ANACRUSIS, die bei vielen Freunden distinguierter metallischer Tonkunst Legendenstatus besitzen. „Dancing With The Past“ sollte eigentlich das Comeback in Originalbesetzung werden, ein Unternehmen, das leider scheiterte. Nachdem der Reanimationsversuch eine große Anzahl neuer Stücke, aber keine Platte hervorbrachte, beschloss der Meister, mit Zustimmung seiner Weggefährten ein Solo-Album daraus zu machen. (*) Die vorliegende, 28 Songs starke Doppelwuchtbrumme enthält nun die Ergebnisse der erneuten Zusammenarbeit der Ur-Mitglieder, die aufgestaute Kreativität von zwanzig Jahren, vor allem aber sehr viel Kenn Nardi. Dass „Dancing With The Past“ dabei problemlos als fünftes ANACRUSIS-Album funktioniert hätte, zeigt mehrerlei.
Zunächst brennt die Flamme der Inspiration in St. Louis lichterloh, denn von dem Hit-Feuerwerk, das Nardi hier abbrennt, hätte sicher auch der idealistischste Fan nicht zu träumen gewagt.
Darüber hinaus hat er die seiner Band eigene, stilistische Evolution auf intelligente Weise fortgeschrieben. „Dancing With The Past“ ist keine Retro-Veranstaltung oder als Rückbesinnung auf vermeintliche Tugenden etikettierte kreative Bankrotterklärung, sondern das, was den musikalischen Handwerker vom echten Künstler trennt: Entwicklung. Mut. Künstlerische Extrapolation. Raus aus der Komfortzone. Ähnlich wie CYNIC mit „Traced In Air“ identifiziert er die Elemente, die ANACRUSIS einzigartig machen und formt dann etwas Neues, Besonderes, Aufregendes daraus.
Was muss nun auf einer Platte zu hören sein, auf der Nardi spielt? Schneidende Riffs? Check. Prominente Bassläufe und kreative Drumpatterns? Ja, die schöpferischen Anteile seiner ehemaligen Mitmusiker hält er respekt- und instinktvoll in Ehren. Die auf „Screams And Whispers“ eingeführten Synths bleiben ebenso erhalten wie auch die unverwechselbare Melodik, dargeboten mit dieser unvergleichlich berührenden, zwischen Zerbrechlichkeit, Verzweiflung, Wut und hysterischer Aggression changierenden Stimme. Was diese schon allesamt grandiosen Zutaten zu mehr werden lässt als der Summe ihrer Teile, ist Nardis Ausnahmetalent für Komposition und Arrangement. Das wird erst vollends klar, wenn man die hier zu hörende Meisterschaft mit Arrangements anderer Bands vergleicht – was zwangsläufig passiert, wenn man die Gründe für seine zweieinhalbstündige Maulsperre analysiert. Die Songs besitzen durchweg zwingende Dramaturgien, emotionale Dringlichkeit, klangliche Dichte, sind Epen im Kompaktformat. Hier ist alles im Fluss, in Harmonie, jeder Schlag und jeder Ton sind auf das Genaueste da, wo sie hingehören. Doch nicht im Sinne sich kurzfristig abnutzender Popmusik, sondern eines unwiderstehlichen, involvierenden Sogs. Seine Musik besitzt eine Tiefe, von der die meisten Musiker träumen, sie zielt nicht auf Wut oder Melancholie ab, sie vereinnahmt die ganze Seele. Und trifft ins Schwarze. 28 mal. Wem eine Trefferquote von 100% – zunächst mal zu Recht – unglaubwürdig erscheint, möge probehören. In diesem Fall stimmt das tatsächlich.
Im Einzelnen öffnet Nardi sein Schaffen in alle möglichen Richtungen, lotet das Spannungsfeld zwischen Extremen aus. Das Erbgut mag aus Thrash und Prog bestehen, doch aktuell verwebt er es mit Elementen aus Art Rock, Folk, Gothic oder Wave – ohne dass man eines davon in seiner Ausprägung als abgeschaut identifizieren könnte. Der Mann macht sich seine musikalischen Einflüsse zu eigen, speilt mit ihnen, formt sie um und gibt sie in seiner ganz eigenen Interpretation zurück in die Welt. Heraus kommen Stücke, die so verdammt großartig – und zahlreich – sind, dass die folgenden Beispiele nur genannt werden, um die stilistische Bandbreite zu illustrieren, nicht etwa, um Anspieltipps zu geben. Hier Stücke heraus zu heben und anderen voran zu stellen, würde dem Gesamtkunstwerk nicht gerecht.
Die Grenzen dieses klanglichen Universums liegen weit voneinander entfernt – so werden Songs wie der relativ straighte ANACRUSIS-Thrasher „Fragile“ kontrastiert durch quasi Singer-Songwriter-Lastiges wie „The Runt“ und praktisch alle denkbaren Nuancen dazwischen; dem orchestral bombastischen „Unnecessary Evil“ steht mit „This Killer In My House“ ein trocken lakonischer, grau resignierter Antipol gegenüber, wogegen „Submerged“ im Grunde ein Wavesong ist, nur eben in der Nardi-Version. Und wiederum gibt‘s auch so ziemlich alles dazwischen, alles nur einmal, so dass alle 28 Lieder ihre ganz eigene Identität besitzen. In seinen Variationen gehen manchmal scheinbar, aber eben nur scheinbar die Pferde mit Nardi durch, denn nach kurzer Gewöhnung erschließt sich in Songs wie „Crêve Coeur (A Place Called Broken Heart)“ das wahre Genie dieses Musikers. Fixe Doublebass wird da unterlegt mit zurückhaltenden, cyberpunkigen Gitarreneffekten, bevor im Refrain ein fieses Pinch-Harmonics-Riff (die Zakk Wylde/Tommy Victor-Quietscher) dahin schlägt, wo es wehtut. Gerade im wohl rasantesten Song inszeniert sich Nardi erstmals als Crooner, was zu einem einmalig schizophrenen Hörerlebnis führt. Das kann er jetzt also auch noch. Talent ist ungerecht verteilt.
Abschließend punktet das Album auch auf Nebenschauplätzen, so stecken die beiden CDs in einem schicken 4-Panel-Doppel-Digipack mit fettem Booklet. In Sachen Veröffentlichung sind hier offenbar eher Musikliebhaber als Geschäftsleute am Werk, was sich durch die gesamte Veröffentlichungspolitik des Labels zieht (siehe dazu auch das GROSS REALITY-Review hier bei musikreviews.de).
FAZIT: Für ANACRUSIS-Fans ist ab heute jeden Tag, Weihnachten, Ostern und erster Geschlechtsverkehr. Nardi liefert die Blaupause für Rückkehrer, Langlebige und auch jeden anderen Musiker, indem er mutig nach vorn blickt, seine Vision ohne Kompromisse umsetzt und dabei mit jedem Ton hoch inspiriert klingt. Für solche Fälle gibt es Höchstpunktzahlen, besser geht es nicht.
(*) Für weitere Informationen sei ausnahmsweise das Interview in Rock Hard Nr. 333 empfohlen. Nicht, weil ich es geführt habe, sondern weil es Einblicke in ein bemerkenswertes personelles und künstlerisches Gefüge und das Schaffen eines fast vergessenen, aber unglaublich talentierten Musikers bietet.
Punkte: 15/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 28.01.2015
Kenn Nardi, John Emery (4 Songs)
Kenn Nardi
Kenn Nardi
Kenn Nardi
Programming, Sequencing, Produktion: Kenn Nardi; Backing Vocals: Chris Speciale
Divebomb Records
157:25
15.01.2015