Ganz ähnlich wie sich ein Virus über ungeschützte bzw. nicht geimpfte Zeitgenossen oder in der multimedialen Computerwelt sprung- und massenhaft auf den Festplatten unseres Digi-Zeitalters ausbreitet, gibt es neuerdings auch in der Musikwelt einen Virus, dem man sich kaum entziehen kann - sein Name: „CD-Box“.
Boxen über Boxen, mal härter, mal schlabberiger. Gefüllt mit mindestens drei CDs nach oben hin allerdings offen - fast immer verpackt in die originalen LP-Papp-Hüllen. Natürlich im Mini-Format und häufig ohne jedes weitere Begleit-Booklet, sodass der Sammler sich als erstes mit einer Lupe bewaffnen muss, um sich durch die winzig kleinen Texte auf den CD-großen Pappen zu quälen. Wer sich auf dieses Verramschen seiner ehemaligen, deutlich teueren Alben heutzutage nicht einlässt, hat wohl die Zeichen der Zeit nicht erkannt, in denen sich eine intensive, komplett oberflächliche Download-Kultur ja längst mit digitalen Files zufrieden gibt und auf physische Tonträger gänzlich verzichtet. Und nachdem BOB DYLAN bereits den Weg gegangen ist und alle seine Studio-Alben in einer riesigen Box veröffentlichte, beschreitet auch RAY WILSON diesen Weg unter dem Titel „The Studio Albums 1993 - 2013“ und füttert seine Hard-Cover-Box mit insgesamt 8 CDs und fast 7 Stunden Musik!
Natürlich stellt sich als erstes die Frage, ob diese Box für alle, die einen Großteil der Alben des ehemaligen STILTSKIN- und zugleich letzten GENESIS-Sängers besitzen, irgendeinen Sinn macht. Die Antwort darauf fällt nicht gerade einfach aus. Betrachtet man den Preis für die 8 CDs, ausschließlich in die bereits angesprochenen LP-Mini-Hüllen ohne jegliche Beigabe, wie ein Booklet oder Ähnliches, so sind die etwa 30 Euro (also knapp 4 Euro pro CD) mehr als angemessen. Nur viele der früheren GENESIS- oder STILTSKIN-Anbeter besitzen sicher bereits die Originalausgaben, die allesamt mit umfangreichem Booklet und allen Texten versehen sind. Doch auch für diese Sammeljünger bietet der Inhalt der Box ein paar Überraschungen, die eine Kaufentscheidung rechtfertigen.
Trotzdem sollte zuvor abgeklärt sein, dass die Bezeichnung der Box purer Etikettenschwindel ist, denn hier gibt‘s nicht etwa 8 Solo-Studioalben von RAY WILSON zu hören, sondern im Grunde nur vier, denn mehr hat er in dem zwanzigjährigen Zeitraum gar nicht veröffentlicht. Die anderen vier Alben umfassen eine Auswahl seiner Alben, die er gemeinsam mit seinen Bands GUARANTEED PURE, CUT und STILTSKIN einspielte, wobei sich natürlich sofort die Frage aufwirft, warum denn nicht die Band mit in der Box enthalten ist, durch die Wilson erst in den Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit rückte - GENESIS mit „Calling All Stations“?
Demgegenüber steht aber die Tatsache, dass mit der 93er CD von GUARANTEED PURE „Swing Your Bag“ eine absolute, längst vergriffene Rarität in der Box enthalten ist - ein echtes Kaufargument. Die Musik darauf ist eine bunte Mischung aus Pop, Funk, Soul, natürlich auch Swing plus Jazz im LOUIS ARMSTRONG-Stil und Balladen sowie Gesang, der bei weitem noch nicht nach dem „typischen“ Wilson, der Nach-GENESIS-Ära klingt. Ein zwar nicht weltbewegendes, aber wirklich nettes Album!
Außerdem enthalten die Alben „Millionairhead“ von CUT und „Change“ jeweils drei Bonus-Titel.
Auf „Millionairhead“ von CUT - übrigens besteht die Band auch aus den GUARANTEED PURE-Musikern plus ein paar Neuzugängen, wobei mit NIR ZIDKYAHU bereits der später auch bei GENESIS agierende Schlagzeuger mit dabei ist - gibt‘s eine gehörige Portion Grunge, Crossover und Indie mit recht düsterer Komponente um die Ohren und eine sehr gelungene Cover-Version des ersten BOWIE-Klassikers schlechthin „Space Oddity“. „Gypsy“ ist dann so ein Song, der garantiert mit dazu beitrug, dass GENESIS auf Wilson aufmerksam wurden - zwar nur knapp vier Minuten lang, dafür aber mit floydigen und genesisigen Untertönen.
Die vier Solo-Alben „Change“, „The Next Best Thing“, „Propaganda Man“ und „Chasing Rainbows“ wiederum sind sich verdammt ähnlich. Es überwiegen deutlich die ruhigen Töne, auch wenn es so einige poppige Melodien gibt, und die Texte erheben eine Anspruch darauf, dass man ihnen zuhört, da RAY WILSON darin was zu sagen hat. Im Grunde sind diese Alben fast klassische Singer-Songwriter-Scheiben, die zwischen mittelmäßig und gut schwanken und wiederum mit dem Prädikat „nett“ versehen werden können. Besonders treffend drückt es allerdings ein Satz aus dem FAZIT zu „Chasing Rainbows“ meines Kollegen Jochen König aus, der hier exemplarisch für alle vier Alben stehen kann:
„Keine Progrock-Innovation, sondern hymnischer, melodramatischer Pop, der eine große Kulisse verdient hätte. Im besten Sinne zeitlos, kitschig und von großen Gefühlen beseelt; ein bisschen schmierig höchstens an den Rändern.“
Vielen Dank, Jochen, dass ich mir diesen Satz mal einfach so stibitzen durfte!
Bleiben am Ende also noch die beiden härtesten Alben übrig - nichts von wegen solo, sondern voll und ganz STILTSKIN. Natürlich stellt sich sofort die Frage, warum auf beiden Alben nicht wenigstens als Bonus das durch eine LEVIS-Reklame 1994 zum Überhit der Band gewordene „Inside“ enthalten ist!? Im Grunde steht dieser Song ja für den ersten kurzzeitigen Durchbruch der Band und RAY WILSONs, die sich kurze Zeit danach zerstritten, um sich dann zwölf Jahre später mit „She“ friedfertig, aber ähnlich hart im Grunge verankert, wieder zurückmeldeten. Wilson äußerte sich dazu selbst, dass er bewusst zu STILTSKIN zurückgekehrt sei, weil er eben auch eindeutige härtere Songs im Musiker-Gepäck hatte, die einfach stilistisch nicht auf eins seiner Solo-Alben passen würden, also musste eben STILTSKIN wieder herhalten, selbst wenn sie nicht mehr der Besetzung des erfolgreichen Debüts „The Mind‘s Eye“ entsprachen. Ähnliches wie für „She“ gilt auch für das zweite STILTSKIN-Album in der Box „Unfulfillment“. Wieder spielen die härteren Gitarren eine sehr wichtige Rolle und wieder wurde das Album hervorragend durch PETER HOFF produziert. Allerdings erreicht „Unfulfillment“ nicht die Härte von „She“, dafür gibt es aber in fast allen Songs jede Menge Streicher-Arrangements zu entdecken. Im Grunde ist „Unfulfillment“ das „Highlight“ der Box geworden, da es RAY WILSON am intensivsten zwischen Härte und Zartheit präsentiert.
FAZIT: Für Sammler ist die Box schon aus finanzieller Hinsicht eine Anschaffung wert, selbst wenn sie neben der Musik von RAY WILSON und einigen seiner Bands keinerlei Informationen enthält. Dafür aber zeigt sie auf beeindruckende Weise, dass dieser Sänger mit seiner gesamten musikalischen Orientierung im Grunde genommen für GENESIS ein Fehlgriff sein musste, denn dort sollte er wohl nur singen, obwohl er uns doch über seine Musik so unendlich viel mehr mitzuteilen hat!
Erschienen auf www.musikreviews.de am 30.03.2015
Ray Wilson
Ray Wilson
In der Box sind leider keinerlei Angaben zu den weiteren beteiligten Musikern enthalten.
Jaggy D / Soulfood
429:19
20.03.2015