SALTATIO MORTIS haben die Schnauze gestrichen voll! Ganz offensichtlich, denn ihr Zirkuszelt in der Mitte des Booklets scheint keine Chance mehr gegen das Atomkraftwerk zu haben, dem es dort in seiner reizvoll-künstlerischen Gestaltung gegenübersteht. Der „Zirkus Zeitgeist“ ist ein Tritt in die Eierstöcke merkelscher Dünnschiss-Politik gepaart mit alternativlosem Geschwafel, dem der Machterhalt aus den Ohren und die Euro-Scheine aus den Augen tröpfeln. Wohl darum wenden sich die Musiker, wenn man das Booklet aufschlägt, gleich an ihre musikalischen Freunde mit einem „So ein Zirkus“-Geleitwort, in dem z.B. solche Zeilen zu finden sind: „Als wir vor nunmehr 15 Jahren begonnen haben, die Straßen unsicher zu machen, war die Welt noch eine andere. Die Zwillingstürme in New York standen noch, auf der internationalen Bühne ging es um Abrüstung und Entspannung, Bankenrettung war noch ein Fremdwort und der Sündenfall von Hartz IV hatte noch nicht stattgefunden“ oder „Unser ‚Zirkus Zeitgeist‘ ist eine unbequeme Platte geworden“.
Und so rocken SALTATIO MORTIS mittelalterlich, punkig aber auch im Stil der TOTEN HOSEN irgendwo zwischen SUBWAY TO SALLY und FIDDLERS GREEN wild drauflos und verteilen verbal ihre Zeitgeist-Watschen an gierige Bänker, verpeilte Nazis, falsche Freunde, religiöse Weihnachts-Jammerlappen, manipulative Presseschön- oder -schwarzfärberei, politische Rattenfänger, Wegschauer, wo Hinschauen angesagt sein sollte oder Wir-sind-Papst-und-sonstwer-Werbe-Labereien und und und: „Sieg heil hört man noch immer rufen!“ („Augen zu!“) - das passt einerseits, doch manchmal fragt man sich, was SALTATIO MORTIS wohl noch schnell für ein Lied geschrieben hätten, um Merkels Totalversagen in der Asylanten-Frage musikalisch auszuschlachten!? „Willkommen, ihr Millionen, es ist schön in Zelten zu wohnen? Drum legt euch hier ganz still zur Ruh, derzeit machen wir die Grenzen zu!“ - oder irgendwas in der Art? Ich weiß es nicht, aber eins ist klar: „Zirkus Zeitgeist“ meldet sich zu aktuellen Themen zu Wort und macht das auf lyrisch angenehme, doch gleichermaßen anklagende Weise! Selbst Balladen wie „Erinnerung“ und „Augen zu!“ halten sich mit Kritik nicht zurück: „Die Geschichte der Erinnerung ergibt kaum einen Sinn, doch in dieser Erinnerung steckt alles, was ich bin“ oder „Die Straße frei den blinden Bataillonen, auf dass der Staat auch diese Schlacht gewinnt“.
Das Album startet mit „Wo sind die Clowns“ grandios durch: der Dudelsack ballert, die Gitarren drücken und die Melodie geht sofort ins Ohr, während der Text die Tücken moderner Technik besingt, in der unser Lachen von Depressionen vertrieben wird: „Keine Zeit für echte Menschen, Freundschaft ist heut virtuell ... Wir sind vom Fortschritt überfahr‘n. Wo sind die Clowns in dieser Welt?“
Wow!
So kann‘s weitergehen und es wird sogar noch besser, denn mit „Nachts weinen die Soldaten“ werden Pazifismus und hervorragende, nachdenklich stimmende, wiederum von Dudelsack und Gitarre bestimmte Musik zu einem Gänsehaut erzeugenden Lied vereint, das unseren Kriegseinsätze unterstützenden Bundes-Präsi Gauck mit seinen Betroffenheits-Predigten zu dem werden lässt, was er ist und schon mit seinem Namen offenbart: ein Gau(c)kler! „Nachts weinen die Soldaten“ bewegt mehr, als alles bundespräsidiale Geschwafel. Wo bleibt endlich der Bundespräservativ, den man diesem Fromm(en)s Joachim überstreifen kann? Vielleicht erkennt er dann ja auch irgendwann einmal: „Sag mir Soldat, wann deine Hoffnung schwand. So steh ich hier, allein mit den Toten, und wünsche mir, die Welt hätte gelernt.“
Dann kündigen sich aber auch die ersten leichteren Ausfälle auf „Zirkus Zeitgeist“ an, die vor allem immer dann auftauchen, wenn sich SALTATIO MORTIS frei- oder unfreiwillig zu sehr den TOTEN HOSEN, welche ja selbst die CDU „an Tagen wie diesen“, wenn ihre Verlogenheit für genug Stimm(ung)en sorgte, für sich entdeckt hat. „Wir sind Papst“ ist beispielsweise so ein Titel oder „Geradeaus“, aber auch die schmachtvoll triefende Hitschmonzette „Erinnerung“. Mit solchen recht bieder wirkenden Stücken ersticken SALTATIO MORTIS leider ihre verbale und musikalische Wut, die sie doch so beeindruckend in den anderen „Kampf“-Liedern und ihrem „So ein Zirkus“-Text des Booklets ankündigen.
Zum Glück beweisen SALTATIO MORTIS dann aber mit „Die Vermessung des Glücks“, dass sie auch mal die SALLY aus der SUBWAY raushängen lassen können und mit ihrer „Abschiedsmelodie“ sogar akustisch vollkommen überzeugen und ganz locker einen der schönsten romantischen Songs ihrer fünfzehnjährigen Ära raushauen können, welcher zwar melancholisch schwelgt, aber nicht in pathetischer Selbstbeweihräucherung versinkt. Das ist dann auch das zweite und zugleich letzte „Wow“ wert!
FAZIT: Willkommen im „Zirkus Zeitgeist“! Hier kann man zwar nicht mehr über die Clowns lachen, dafür aber in Nachdenklichkeit versunken mit weit offenen Ohren SALTATIO MORTIS lauschen, die musikalisch zwar mittelalterlich rocken, aber textlich total auf der Höhe der Zeit sind!
Punkte: 11/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 16.09.2015
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