Wenn ein Album mit solch wundervollem, farbigem Cover, welches einerseits an naive Kunst, andererseits auch an die hohe Kunst auf der Suche nach einfacher Schönheit erinnert, dann glaubt der Betrachter, bevor er die CD, die sich dahinter verbirgt, auflegt, dass der Musiker hinter TIGER MOTH TALES sich wohl ganz Ähnliches für seine Musik einfallen lässt. Dieses Bild verrät uns schon sehr viel, denn es weckt Erinnerungen an GENESIS, CAMEL, KAIPA oder die FLOWER KINGS. „Cocoon“ ist ein Album geworden, welches sich unüberhörbar in die Reihe dieser Bands einordnet, das allerdings unter unvergleichbaren Umständen entstand. Denn einerseits erleben wir auf „Cocoon“ keine Band, sondern einen britischen Multiinstrumentalisten im gänzlichen Alleingang und andererseits ist PETER JONES, der alle Instrumente perfekt bedient, seit seinem ersten Lebensjahr blind und wird dieses Cover nur aus Beschreibungen des dafür verantwortlichen Künstlers NEIL MARTIN kennen.
<br><center><iframe width="560" height="315" src="https://www.youtube.com/embed/ZpnJmWEJVZg" frameborder="0" allow="accelerometer; autoplay; encrypted-media; gyroscope; picture-in-picture" allowfullscreen></iframe></center></br>
Mit Glück sprang der am bösartigen Tumor Retinoblastom Erkrankte zwar dem Tod gerade so von der Schippe, als sein Leben als damals anderthalbjähriger Junge noch gar nicht richtig begonnen hatte, aber er musste dafür mit seinem Augenlicht bezahlen, da die Tumoren als erstes die Netzhautzellen angreifen. Auf 20.000 Geburten fällt ein Kleinkind mit solcher Krankheit. Aber spätestens nach „Cocoon“ können wir feststellen, dass PETER JONES das wohl Beste daraus machte, indem er alle anderen Sinne schärfte. Bereits mit vier Jahren besaß er sein erstes Klavier und stellt heute, mit 34 Jahren, fest: „Musik war schon immer ein riesiger Teil meines Lebens. Gerade dadurch, dass ich mein Augenlicht verlor, schärfte sich mein Gehör um ein Vielfaches und meine Hände und Gefühle setzten diese dann in Klänge um.“
Zum Prog aber fand Jones erst vor zwei Jahren, obwohl er zuvor Musik studiert hatte - sich aber diesbezüglich nur in der Klassik, dem Swing sowie etwas Rock und dem Jazz austobte. Völlig überraschend überkam ihn diese Leidenschaft, wohl ausgelöst durch die Musik von STEVE HACKETT, den er als seinen größten Einfluss bezeichnet, und der auch für den Namen seiner „Solo“-Band verantwortlich ist. Wer sich die Songs von Hacketts „Spectral Mornings“ anschaut, wird schnell herausbekommen, was gemeint ist.
Selbstverständlich hört man den Einfluss des GENESIS-Gitarristen, aber genauso auch einige metallische E-Gitarren-Kracher, auf dem gesamten Album. Ein ganz außergewöhnlicher Reiz geht jedoch von den zusätzlichen weltmusikalischen Einflüssen aus, da Jones auch Zithern, Flöten, Saxofone, Glockenspiele und vor allem die indische Laute spielt. Das alles wird durch eine Unmenge von Klang-Collagen aus Natur und Technik miteinander verbunden. Aber es fehlen ebenso wenig Jazz- und Swing-Elemente, wofür „The Merry Vicar“ das beste Beispiel ist. Genauso werden wir klassische Piano-Passagen genießen können, die dann schlagartig in bombastische Keyboard-Klangkaskaden übergehen. Selbst ein RICK WAKEMAN würde wohl bei einigen dieser Fingerachterbahnfahrten über die schwarzen und weißen Tasten vor Neid erblassen. Es ist wirklich unglaublich, mit welchem Können und welcher Leidenschaft PETER JONES alle Instrumente bedient, wobei besonders die Tasteninstrumente - auch eine Melodica fehlt nicht - in wahrer Perfektion erklingen.
<br><center><iframe width="560" height="315" src="https://www.youtube.com/embed/HwusJy0N8i4" frameborder="0" allow="accelerometer; autoplay; encrypted-media; gyroscope; picture-in-picture" allowfullscreen></iframe></center></br>
Nun könnte man denken, dass bei einem Multiinstrumentlisten - wie es oftmals der Fall ist - ein ganz bestimmtes „Instrument“, bei dem Bänder sehr wichtig sind, das schwächste ist: die Stimme. Doch vom ersten Ton an wird man auch von Jones Stimmbändern in den Bann gezogen, denn aus ihnen erklingen Töne, die sich geschickt zwischen PHIL COLLINS, NEAL MORSE und PETER GABRIEL bewegen. Es ist wirklich nicht zu glauben, aber „Cocoon“ klingt wie der nie erschienene „Missing Link“ zwischen GENESIS‘ „Lamb Lies Down On Broadway“ und „A Trick Of The Tail“. Dazu kommen noch eine Vielzahl von Klangeffekten und mittelalterlich anmutenden Sounds, die an einen deutlich zu unterbewerteten Ex-Ur-GENESIS und eines der schönsten Prog-Werk überhaupt erinnern: ANTHONY PHILLIPS „The Geese & The Ghost“. Vollendet wird „Cocoon“ von einem kristallklaren Sound und einer typisch progressiven Konzept-Geschichte, die zweifellos an die kreativen, lyrischen, mystischen und poetischen Textideen eines PETER GABRIELs erinnern, als dieser noch Lämmer auf dem Broadway liegen lassen und England für ein Pfund verkaufen konnte.
FAZIT: Wenn diese Welt gerecht ist und der Prog noch lebendig, dann ist TIGER MOTH TALES schon im Monat Januar die Entdeckung des Prog-Jahres 2015! Daran wird auch - so viel kann ich hier schon verraten - das neuste Album von STEVEN WILSON nichts ändern! Ein kleines, von einem einzelnen Musiker verwirklichtes Wunderwerk, das so klingt, als hätte es eine Prog-Rock-Super-Group eingespielt!
<br><center><iframe width="560" height="315" src="https://www.youtube.com/embed/4qV8TJMiJac" frameborder="0" allow="accelerometer; autoplay; encrypted-media; gyroscope; picture-in-picture" allowfullscreen></iframe></center></br>
Erschienen auf www.musikreviews.de am 30.01.2015
Peter Jones
Peter Jones
Peter Jones
Peter Jones
Peter Jones
Peter Jones (Saxofon, Flöte, Zither, Sarod, Melodica, Glockenspiel, Percussion), Mark Wardle (Flügelhorn)
White Knight / Just For Kicks
69:36
30.01.2015