Man schreibt das Jahr 2005, als Nick Andersson, seines Zeichens ehemaliger Drummer bei ENTOMBED und NIHILIST, ein Buch namens „Choosing Death“ in die Finger bekommt. Andersson ist gerade mit seiner Garage-Rock-Truppe auf Tour und glaubt, mit Death Metal seit langem abgeschlossen zu haben. Es muss demnach schon was dran sein, an diesen paar Seiten aus der Feder des Chefs des „Decibel“-Magazins, Albert Mudrian, denn bereits ein Jahr später steckt Nick Andersson erneut bis zum Hals im wieder aufbrodelnden Sud aus Gebolz und Gebrüll, das einen so wunderbar „wohlig erschauern und so laut lachen lässt“, wie es John Peel, der als Radio-Moderator einen nicht unerheblichen Einfluss auf den Erfolg des Genres hatte und der ein Vorwort zu dieser überarbeiteten und erweiterten Fassung von „Choosing Death“ beigesteuert hat, ausdrückt.
Es ist ein Mammutprojekt, das sich Albert Mudrian mit dem Vorsatz vorgenommen hat, die Geschichte von Death Metal und Grindcore, von den Anfängen in den 1980ern bis in die Gegenwart (Stand 2015), zu erzählen: 200 Interviews bilden die Grundlage des Textes, bei dem die Musiker sehr ausgiebig direkt zitiert werden, was dem Ganzen eine spannende Unmittelbarkeit verleiht. Bei der Fülle an Material kann Mudrian sogar verschiedene Positionen einander gegenüberstellen, so zum Beispiel die von Digby Pearson, Gründer des legendären Earache Labels und deren Vorzeige-Band NAPALM DEATH wenn es um finanzielle Streitigkeiten geht.
NAPALM DEATH, REPULSION, CARCASS, MORBID ANGEL und so weiter: Alle haben für Mudrian ihren Senf abgegeben und er hat daraus dieses wirklich spannende Buch gerührt. Bei dem Reigen an (Underground-)Berühmtheiten erwartet man fast, dass CHUCK SCHULDLINER höchst selbst zu Wort kommen wird.
Beginnend in England mit NAPALM DEATH und EXTREM NOISE TERROR und etwas verzögert in den Staaten, Skandinavien und bald dem Rest der Welt, erzählt Mudrian minutiös von der langsamen Etablierung der Bands, wie erste Plattenverträge geschlossen wurden, wie die Szene durch Tapetrading auf der ganzen Welt Zuspruch und Nachahmer fand, von dem kurzen Ausflug zu Majorlabels wie Columbia in den 90ern und der dunklen Zeit um die Jahrtausendwende, in der Death Metal, leidend an fehlender Innovation und sich abwendenden Fans, dahinsiechte, um später einerseits durch musikalische Weiterentwicklung in melodischer bzw. technischer Hinsicht, andererseits durch die Reunions vieler großer Death Metal- und Grindcore-Veteranen wie AT THE GATES, CARCASS oder REPULSION wieder frischen Wind zu spüren.
Das Buch ist gepflastert mit Schwarzweiß-Fotos, (seltene) Bandfotographien sind hier ebenso zu finden wie Flyer für Konzerte oder Tape-Cover. Das Ganze ist sehr flüssig zu lesen, gerade aufgrund der Zitatfülle ist man auf sprachlichem Niveau sicher nicht überfordert.
Für jemanden, der neu in dieses Genre einsteigen will und sich Empfehlungen bzgl. Alben und Bands erhofft, könnte dieses Buch jedoch zur Enttäuschung werden: Während Mudrian sich ausführlich den Mechanismen innerhalb der Szene widmet (Wie kommen die Bands zusammen, wer spielte wann wo, wer wurde wodurch auf wen aufmerksam usw.), hält er sich mit Beschreibungen der Musik, wobei sie es ja eigentlich ist, um die es geht, sehr zurück, beschränkt sich auf vereinzelte kurze Bemerkungen. Zwar findet sich am Ende des Buches eine Diskographie mit ausgewählten Alben, nach Jahren (1985-2015) sortiert, sowie ein Personenverzeichnis, aber wer nach Einstiegsdrogen und/oder Geheimtipps sucht, wird mit dieser ungefilterten Informationsauflistung wohl nicht glücklich werden. Somit läuft man, wenn man nicht Stift und Papier beim Lesen bereit hält, Gefahr, vieles in der Flut von Personen, Bands, Daten, Ländern, Demos und Alben wieder zu vergessen. Hinzu kommt, dass Mudrian oft in rasantem Tempo und beinahe übergangslos von einer Band zur nächsten wechselt, wobei er die Musiker häufig nur beim Vornamen nennt und oft nur einmal ihr Instrument bzw. ihre Bandzughörigkeit klarmacht. Somit ist es für jemanden, der nicht mal ansatzweise so viel Wissen wie der Autor selbst angehäuft hat, manchmal schwer, sich im Dickicht von Informationen zurechtzufinden. Ein benutzerfreundlicher Service, wie etwa eine Timeline mit den wichtigsten Daten, wäre dem interessierten, aber nicht allzu beschlagenen Leser eine wertvolle Hilfe, um all das mitzunehmen, was das Buch zu bieten hat.
Ob einem diese mehr neutral-wissenschaftliche Darstellung mehr zusagt als eine wertende Auswahl, ist letzten Endes Geschmackssache, was allerdings nicht wirklich wissenschaftlich anmutet, sind die recht häufigen Schreibfehler, welche sich aber nie negativ auf die Verständlichkeit des Inhalts auswirken.
FAZIT: „Choosing Death“ bietet einen unglaublich umfangreichen und faszinierenden Einblick in die extremsten Spielarten des Metal. Ob der Fülle an Interviews und der Perspektive des Autors, die eher die eines Forschers als die eines Fans ist, lässt dieses Buch in puncto Glaubwürdigkeit keine Zweifel aufkommen. Sowohl für die, die diese Szene von Anfang an miterlebt haben, aber insbesondere auch für die Generation, die die Pioniere dieses Genres nur in der Retrospektive entdecken kann, ist „Choosing Death“ eine sprudelnde Quelle an Information und Motivation, sich (wieder) mit Death Metal und Grindcore zu befassen. Allein in Sachen Übersichtlichkeit und Zugänglichkeit noch verbesserbar ist „Choosing Death“ allen Todesjüngern und solchen, die es werden wollen, wärmstens zu empfehlen.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 31.10.2016
Iron Pages
376 Seiten
19.09.2016