TURBOSTAAT spielen bei Joko und Klaas, Deutschrock krankt an flapsig ironisch dargebotenem Indie-Pflicht-Weltschmerz einerseits und gutbürgerlichem Plastik-Schlagerrock andererseits – „ist das noch Punk-Rock?“ Und nachdem Bela B. sich lieber damit vergnügt, mit Jan Böhmermann Plätzchen zu backen oder Hörspiele zu produzieren (und das letzte ÄRZTE-Album sowieso eine eher unerfreuliche Angelegenheit war), muss es halt jemand anderes machen.
Und - voilà! Aus dem Saarland erhebt sich ein torkelnder Mittelfinger mit Tinte und Popeln unter den Nägeln: CAPTAIN RISIKO!
Musikalisch bewegt man sich gar nicht soweit weg von TURBOSTAAT, oder auch (ansatzweise und noch ein gutes Stück von deren musikalischen Dimensionen entfernt) dem amerikanischen Post-Hardcore (z.B. TOUCHÉ AMORÉ): Auf einem oft harten kargen Brett werden die wirklich gelungenen Texte serviert, um mit schlafwandlerischer Sicherheit in grandiose Hooks überzugehen, die die HOSEN sicher nicht besser drauf haben.
Inhaltlich wird das Feld zwischen politischen und introspektiven Themen bestellt, plakativ wird in „Kaufhausware Mensch“ das menschenunwürdige Dasein der Flüchtlinge besungen, aber: Nicht „das wird man wohl noch sagen dürfen“ gilt hier, sondern „das kann nicht oft genug gesagt werden“!
„Ich sitze hier am Citystrand/Mit grünem Fernet in der Hand/Der große Fluss spült alles weg/Rattenkot und Dancefloordreck“ ist der Single „Stadt im Glück“ entnommen, die wesentlich durchdachter und düsterer rüberkommt, als man von einer Band, die ihren Hauptzweck laut eigener Angabe in Spaß und Bier sieht, erwarten würde.
„Zurück“ wartet mit einem Refrain auf, die unweigerlich an „Altes Fieber“, den ultimativen Klassentreffen-Hit der TOTEN HOSEN, erinnert, nur dass die hier zum Ausdruck gebrachte Angst, die möglicherweise falschen Entscheidungen, überhaupt Entscheidungen zu treffen, doch etwas tiefergehende Schichten ankratzt.
„Herr Karoshi“: „Zähne geputzt und dann übergeben/Zwischen Haustür und Bahnsteig ein handfestes Leben/Und am Abend da spiegeln sich all deine Jahre im Glas/Das noch nie richtig voll war, na klar, das Leben macht Spaß.“ Das Ganze getragen von passend schleppenden, kraftlosen Riffs – sehr gelungen.
„Bitte bitte“ ist ein wahres Highlight der Scheibe: Ein hyperaktives, bitterböse geiferndes Fuck-You an die Hipster dieser Welt, die mit ihrer 24/7-Selbstdarstellung Ignoranz und Empathielosigkeit zelebrieren: „Du bist so frisch und superneu und kennst dich richtig gut hier aus/kennst alle neuen Scheißdrecks-Songs und man spendet dir Applaus/In einer Welt in der dein Turnbeutel viel mehr zu sagen hat/Als dein Verstand, doch das ist kein Problem, denn dir gehört die Nacht“.
„Captain Risiko“ kommt als einer der musikalisch ausgefeiltesten und volltönensten Tracks daher, hier ist Abwechslung geboten, auf dem Fundament aus unbequemen Riffs prescht man zum Refrain, der wie immer beste Mitsing-Qualitäten bietet: „Frag doch nicht nach morgen, es wird heut‘ zu Ende gehen/Nur die Toten haben den Krieg gesehen“.
„Absturz“ ist das was der Titel vermuten lässt: Eine unwiderstehliche Alles-ist-scheiße-und-wir-tanzen-drauf-Hymne, die zwar nicht zu den spannendsten Songs des Albums gehört, aber förmlich nach einer Bühne und vielen Kehlen, die mitbrüllen, lechzt.
Das abschließende „Aus Hass wird Heimat“ thematisiert was der Titel vermuten lässt, jedoch bleibt man hier sowohl textlich als auch musikalisch etwas im Vagen, die Gitarrenmelodie kommt einem langsam schon etwas zu bekannt vor: Ein etwas schwacher Schlusspunkt.
FAZIT: CAPTAIN RISIKO liefern ein furioses drittes Album ab. Mitreißend, voller Überraschungen, ehrlich, zynisch und hochgradig unterhaltsam.
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 21.12.2016
Lukas Decker
Benedict Schmitt
Benedict Schmitt, Yannik Dewes
Nils Hinsberger
Broken Silence Distribution
38:11
05.08.2016