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Little Annie: Trace

Stil: Swing, Jazz, Electronic und eine gehörige Prise genialer Kunst-Wahnsinn

Cover: Little Annie: Trace

Eigentlich wollte ich diese Kritik gänzlich anders beginnen. Natürlich habe ich die erste Einleitung deswegen nicht gestrichen, sondern nur direkt unter dieses Kritiker-Intro gestellt, weil ich nach ausgiebigen Recherchen zu diesem außergewöhnlichen „Gesamt-Kunstwerk“ LITTLE ANNIE, die eben nicht nur eine amerikanische Sängerin, sondern auch Malerin (Was man auch sofort an dem durch sie gestalteten Cover erkennt!) und Bühnenschauspielerin ist, eine besondere Entdeckung machte, die mich als großen Verehrer von FRANK ZAPPA zu diesem Einleitungs-Richtungswechsel regelrecht zwang!
FRANK ZAPPA nämlich gehörte zu den „Fans“ von LITTLE ANNIE, die damals in sehr renommierten Szene-Gruppen aktiv war und als Frontfrau der Punk-Band ANNIE AND THE ASEXUALS lautstark in Erscheinung trat. Aber auch CRASS, COIL und CURRENT93 verlieh sie ihre Stimme, womit wir wieder bei ihrem verehrten Verehrer Zappa wären, der zu Annie und ihren ASEXUALS folgendes schrieb: „Dieses Mädchen trug lange Winterunterwäsche und einen schwarzen Ledermantel darüber. Dann schleppte sie noch eine Papiertüte mit sich herum, in der eine Flasch Wodka war. Außerdem schrie sie auf der Bühne etwas über ‚Thorazine‘ und dass sie aus der Klapsmühle käme. Und das entsprach tatsächlich der Wahrheit.“
Da ist sie wieder, die große Frage nach dem, was sich zwischen Wahnsinn und Genie bewegt. Eine Teilantwort darauf besteht aus zwei Wörtern: LITTLE ANNIE!

Und damit wären wir bei dem anfangs geplanten Kritik-Beginn, den ich bei solcher Musik einfach nicht unter den Kritiker-Tisch fallen lassen kann:

Wie nur würde es klingen, wenn sich dies elektronischen Sound-Klang-Sprechgesang-Experimentiererinnen LAURIE ANDERSON und ANNE CLARK entscheiden würden, mal mit ihren Voraussetzungen ein Swing-Bar-Jazz-Album aufzunehmen, während im Gegenzug Swing-Musiker ein experimentelles, sehr elektronisch ausgerichtetes und natürlich mit Sounds experimentierendes Album aufnehmen und die einzige gemeinsame Dominante darin weiblicher Gesang sein soll, der eine ganz ähnliche Ausstrahlung und Intensität wie ein TOM WAITS zu seinen besten Zeiten - also als er auch noch gehörig so einige Promillezahlen im Kahn hatte - versprühen soll?
Wenn man mit einer solchen Frage die Review zu einer mehr als außergewöhnlichen Musikerin und ihr mehr als außergewöhnliches Album beginnt, dann fällt die Antwort wohl ganz eindeutig aus: Genauso wie „Trace“ von LITTLE ANNIE!

Gänzlich unvereinbar erscheinen die musikalischen Stilrichtungen, die in „Trace“ miteinander kokettieren und viele werden sicher völlig verschreckt wahrnehmen, was für eine verrückte Musik-Kombination LITTLE ANNIE auf einem Album in sich vereint. Ähnlich viele werden wahrscheinlich kein großes Verständnis dafür aufbringen, außer man ist, wie der Kritiker dieser Zeilen, ein leidenschaftlicher Verehrer von MILES DAVIS genauso wie von MARIANNE FAITHFULL und LAURIE ANDERSON und möchte nur zu gerne einmal ein Album hören, auf dem ihre Musik unmittelbar nebeneinander steht, aber nicht als Misch-Masch innerhalb einzelner Songs präsentiert wird. Genau dann wird uns „Trace“ in Trance versetzen!

„Trace“ ist ein musikalisches Kunstwerk geworden, das man mit einem farbenfrohen Bild vergleichen könnte, in dem gleichermaßen zwei sich gänzlich widersprechende Stilmittel verwendet werden - also der Impressionismus auf den Expressionismus trifft und nach einer Vereinigung sucht. Ganz ähnlich wirkt auch das Album von LITTLE ANNIE, auf dem sie mal wie eine Chanteuse, mal wie eine besoffene Alte und mal wie eine eiskalte Elektronik-Pionierin (sprech-)singt. Dabei begegnen uns jede Menge Orgeln, Blas- und Streichinstrumente genauso wie unterkühlt wirkende Electronics. Wobei der nach kurzem Intro eingeleitete Song „Dear John“ gleich ein riesengroßes Achtungszeichen setzt, was neben der spannenden Instrumentierung an der noch spannenderen, charismatischen Stimme von LITTLE ANNIE liegt, welche sogar schon zu (berechtigten) Vergleichen mit der unerreichten Jazz-Sängerin BILLIE HOLIDAY führte. Danach halten sich akustische Swing-Jazz-Nummern und elektronische Sound-Collagen, in denen sogar E-Gitarren richtig mit hineinfeuern dürfen, die Waage.
Ein Musik-Wechselbad der Gefühle!

Besonders gelungen ist auch „You Better Run“, eine herrlich orchestrale Streicher-Ballade voller verspielter Percussions und Bar-Piano, die Waits‘ „Grapefruit Moon“ verdammt nahe kommt. Mit das Beste, was man momentan so an Balladen überhaupt zu hören bekommt!

Ähnliches gilt für „Trace“ - mit das Gewagteste, was man derzeit so zu hören bekommt.

FAZIT: Ein gewagter Grenzgang zwischen warmem Bar-Jazz und eiskalter Elektronik. Nicht umsonst gilt LITTLE ANNIE als eine Ikone der New Yorker Kunst-Szene, die sich mit Leib und Seele seit über 40 Jahren der Malerei, dem Schauspiel und der Musik widmet. Ihre Stimme ist einzigartig und hat etwas Hypnotisches. Sogar ZAPPA gehörte zu ihren Verehrern und ZAPPA würde das Album mögen, da bin ich mir sicher!

Punkte: 12/15

Erschienen auf www.musikreviews.de am 24.05.2016

Tracklist

  1. Cold World
  2. Dear John
  3. My Old Man Trouble
  4. Nought Marie
  5. India Song
  6. She Has A Way
  7. Bitching Song
  8. You Don‘t Know What Love Is
  9. Break It You Buy It
  10. You Better Run
  11. Midlife Lazarus
  12. Trace

Besetzung

  • Bass

    Rob Clutton, Paul Wallfisch, Jean Martin, Andrew Downing

  • Gesang

    Little Annie

  • Gitarre

    Graham Campbell, Justin Haynes

  • Keys

    Ryan Driver, Justin Haynes, Paul Wallfisch, Jean Martin

  • Schlagzeug

    Blake Howard, Paul Wallfisch

  • Sonstiges

    Michael Davidson (Vibraphone), Jesse Zubot (Violine, Bratsche), Andrew Downing (Cello), Chris Cundy (Klarinette, Saxofon), Paul Watson (Trompete), Felicity Williams (Chor), Thom Gill (Background Vocals)

Sonstiges

  • Label

    Tin Angel / Indigo

  • Spieldauer

    52:56

  • Erscheinungsdatum

    20.05.2016

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