Es gibt sie noch immer diese Alben, die ihre musikalischen Fühler in der ersten Minute nach einem ausstrecken, dich anfangs zart berühren, um sie dann fest zu schließen und erst nach dem letzten Ton wieder langsam zu öffnen. Solche Alben sind eine echte Seltenheit. Fast schon Exoten.
„Tii Ilo“ von MARI KALKUN & RUNORUN ist so ein Album!
Es beginnt mit <a href="https://www.youtube.com/watch?v=r158DTzDQzA" rel="nofollow">dem Klang nackter Füße, die über Stroh laufen</a>, zu dem sich dann eine Frauenstimme erhebt, die uns in ihrer ganzen warmen Schönheit gefangen nimmt und es endet mit ausgiebigem Solo-Gesang genau der gleichen Stimme.
Hinter dieser Stimme verbirgt sich die estnische Sängerin MARI KALKUN, welche bereits 2013 in ihrer Heimat als beste Sängerin bei den „Ethno Music Awards“ ausgezeichnet wurde. Schon nach dem ersten Song auf „Tii Ilo“ wissen wir auch warum. Besonders reizvoll ist hierbei natürlich, dass sie in vier unterschiedlichen Landessprachen bzw. Dialekten singt. Doch keine Angst, in diesem Moment bekommt für uns das wundervoll von der finnischen Künstlerin TATJANA BERGELT gestaltete dreifaltige Digi-Pack samt 28seitigem Booklet eine große Bedeutung. Denn hier dürfen wir neben der Kunst auch alle Texte im Original und in ihrer englischen Übersetzung lesen.
Die Texte drehen sich um die Schönheiten und Bedrohungen der Natur, aber auch dem Unterwegssein auf der „Schönheit der Straße“ (Tii Ilo), selbst wenn dort Gefahren lauern. Oft sind es estnische Poeten, von denen die Texte stammen, denen MARI KALKUN nun ihre wundervolle Stimme leiht.
Doch was wäre eine Stimme allein, wenn sie nicht auf die passenden musikalischen Begleiter träfe. Hier kommt die finnische Band RUNORUN ins Spiel, die mit traditionellem Folk samt verspielt-zartem Jazz Kalkuns Stimme eine zusätzliche Intensität verleiht. Auch die Improvisation spielt hierbei eine bedeutende Rolle, wie Schlagzeuger TATU VIITALA es passend formuliert, indem er die Musik als eine gemeinsam Fahrt mit einem Zug vergleicht, bei der alle ein einheitliches Ziel haben, aber die Weichen immer mal wieder verstellt werden, ja nachdem was gerade so passiert. Und wieviel Spaß man dabei haben kann, hört man am besten wohl auf „Let‘s Go Home“. Maßgebliche Instrumente sind neben Kontrabass und Schlagzeug besonders die in Finnland uns Estland gleichermaßen traditionelle Kannel, eine griffbrettlose Kastenzither, deren Klang sehr an die Harfe erinnert. Und die gibt‘s gleich im Doppelpack auf „Tii Ilo“ zu hören, da die vierte Im Musikerbunde ebenfalls Kannel spielt und die zweite Stimme beisteuert, welche sich ausgezeichnet mit Kalkuns Gesang ergänzt. So kommen bei all dem leidenschaftlichen Gesang und Kannel-Spiel mitunter Erinnerungen an die frühe Phase von LOREENA McKENNITT auf.
Eine Vielzahl von natürlichen Geräuschen, die oftmals einzelne Songs eröffnen oder mitten darin auftauchen, bringen die immense Naturverbundenheit des Albums zum Ausdruck. Absoluter Höhepunkt ist dabei <a href="https://www.youtube.com/watch?v=llEf24j_8J4" rel="nofollow">das herrliche Stereo-Schnarchen auf
„Jakop‘s Dream“</a>, einem Song, der sehr geschickt Tradition und Moderne miteinander vereint.
Mit Vogelgezwitscher beginnt „Chirp-Chirrup Little Skylark“ und entwickelt sich vom Gesang zum ungewöhnlichsten Song, denn hier hören wir erst die singende Lerche und dann stimmt MARI KALKUN ihren Gesang genau auf das Zwitschern des Vogels ab, mit wundervoll rollenden „Rrrrrrrrs“ in den höchsten Tönen. Sie singt einem Vogel gleich und summt am Ende wie eine Hummel. Unfassbar!
Gleich danach erleben wir den krassen Gegensatz zu dem himmlischen Lerchen-Song. Nun wartet der finsterste, bedrohlichste, experimentellste Song auf uns - das Kriegs-Lied! Grollende Trommeln, marschähnlicher Gesang und ein lyrischer Text, der den Krieg mit dem Backen eines Brotes vergleicht, dessen Laib aus Bosheit besteht und mit der Feststellung endet: „Oh, die Kunst des Krieges wird in Teer gegossen / Oh, die Hinterlassenschaft des Krieges dann mit Sand bedeckt.“
„War Song“ ist nicht das einzige bedrückende Stück des Albums, aber er ist der politischste.
Neben all der Schönheit der Musik beeindruckt auch der Sound des Albums, der nicht etwa in einem namhaften großen Studio aufgenommen wurde. Das kleine estnische Dorf Tuhalaane stellte ein ebenso kleines Studio für die Aufnahmen zur Verfügung. Für zusätzlich Atmosphäre sorgte dabei auch noch, dass sich im Hinterhof des Studios die Ruine einer orthodoxen Kirche befand und vielleicht wurde gerade darum auch „Jakop‘s Dream“ eine Abrechnung mit der Scheinheiligkeit religiöser Nutznießer, die ihren Glauben als Mittel zum Zweck einsetzen: „Mary, Mary, mother dear, where is your beautiful son? [...] Jesus feet so full of nails“!
Mit anderthalbminutigem Solo-Gesang endet „Tii Ilo“ und entlässt uns dann ganz behutsam aus seinen Fängen.
FAZIT: In Finnland und Estland wurde „Tii Ilo“ bereits für den Preis des „Ethno-Albums des Jahres“ nominiert. Die Chancen stehen wirklich gut - das erkennt man bereits nach dem ersten Hördurchgang und spätestens nach dem zweiten fragt man sich, welch Album diese mit nur klitzekleinen Schwächen versehene CD überhaupt toppen soll.
Punkte: 14/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 07.05.2016
Nathan Riki Thomson
Mari Kalkun, Maija Kauhanen
Tatu Viitala
Mari Kalkun, Maija Kauhanen (Kannel, Kantele)
Nordic Notes
51:36
06.05.2016