Kennt noch jemand <a href="https://www.youtube.com/watch?v=tW63y1vpJvA" rel="nofollow">„Battlement“</a>?
Das Album aus dem Jahr 1978 der deutschen, sich so fein romantisch benannten Band NEUSCHWANSTEIN, das mit einem Schlag die Hoffnung aller deutschen Prog-Heads ins Unendliche katapultierte, dass hier – mitten aus deutschen Landen – tatsächlich eine Band käme, die sich, nachdem drei Jahre zuvor PETER GABRIEL GENESIS verlassen hatte, das Erbe der „alten“ GENESIS nicht nur fortzusetzen vermöge, sondern sich mit ihnen auch auf eine Stufe stellen könne. Wie groß waren die Hoffnungen, wie fantastisch war das Album! Doch dann blieb es ruhig um NEUSCHWANSTEIN und alle Hoffnungen wurden nach und nach begraben. Leider – denn mit „Battlement“, das es sogar auf‘s französische Prog-Vorzeige-Label Musea geschafft hatte, war wirklich ein kleine Sensation richtig guten 70er-Jahre-Progs gelungen! Doch dann schien NEUSCHWANSTEIN wie unter einem Sargdeckel hinter seiner progressiven Festungsmauer auf Nimmerwiedersehen beerdigt zu werden.
Ganz plötzlich aber, mit einem Schlag, hebt er sich wieder. Der Sargdeckel um die begrabenen NEUSCHWANSTEIN-Hoffnungen und lässt aus seinem Inneren „Fine Art“ entsteigen, ein Album, das tatsächlich die Hoffnungen erfüllt und neue weckt, auch wenn NEUSCHWANSTEIN kaum noch – trotz intensivem Querflöten-Einsatz – nach GENESIS klingen, sonder viel eher nach der Kombination aus ELP und Klassik und progressiv hart rockender Komplexität, die uns eine (Auch das ist neu!) instrumentale Symphonie offenbart, welche ihresgleichen sucht.
Wie konnte NEUSCHWANSTEIN sich nur so viel Zeit für dieses symphonische Meisterwerk lassen und so viel Hoffnungen verspielen?
Egal, denn was sie uns nun mit „Fine Art“ bieten, entschädigt für alles – auch die 38jährige Wartezeit!
NEUSCHWANSTEIN bezeichnen ihr neues Album sehr passend selber: „Symphonisch-neoromantischer Orchesterklang und rockige Kapelle. Miteinander, gegeneinander, fugisch verzahnt und völlig frei. Emotional und wahrhaftig. Instrumental wie in den ersten Jahren. Musik, die Geschichten erzählt. Programmmusik.“
Ein Album völliger Gegensätze, die sich bissig aufeinander stürzen, also?
Ach was, ein Album das endlich mal wieder kunstvoll Klassik und Rock zu instrumentalem Art-Rock vereint und so im Sinne der besten Artrock-Bands daherkommt, die sich an Ähnlichem meisterhaft versuchten und solche Namen wie EMERSON LAKE & PALMER, THE ENID, STERN-COMBO MEISSEN oder COLLEGIUM MUSICUM tragen.
Auf „Fine Art“ wird nichts dem Zufall überlassen.
Das beginnt schon beim <a href="http://www.longbowrecords.de/index_html_files/Original%20H.%20Daumier%20Mlle%20Becassine.jpg" rel="nofollow">historischen Cover</a> nach Honoré Daumier (1808 - 1879), dem französischen Maler, Bildhauer, Grafiker und (wie am Coverbild unübersehbar) Karikaturisten sowie der beeindruckenden Bebilderung aller Stücke im vierfaltigen Digipak.
Auch die Musik des Albums enthält drei historisch-klassische Bearbeitungen, von denen gleich die erste, das Album eröffnende, den Hörer schlichtweg umhaut. NEUSCHWANSTEINs Interpretation von CLAUDE DEBUSSYs „Fêtes“ (Feste) – <a href="https://www.youtube.com/watch?v=PiaUKlWZYMw" rel="nofollow">nach dem Vorbild der Originalaufführung der Berliner Symphoniker mit Pierre Boulez</a> - weckt Erinnerungen an die schönsten ELP-Zeiten, aber setzt noch eine gehörige Portion drauf, denn hier erklingen auch E-Gitarren und Querflöten, dass es eine wahre Freude ist! Und während man noch in Begeisterung schwelgt, taucht nach etwa sechs Minuten des zehn Minuten andauernden symphonischen Meisterwerks tatsächlich unüberhörbar der Bolero-Rhythmus von MAURICE RAVEL auf.
<a href="http://www.longbowrecords.de/index_html_files/per%20omnem%20vitam.jpg" rel="nofollow">„Per Omnem Vitam“</a> besticht anfangs durch ein eindrucksvoll-verträumtes Flöten-Solo und breite Streicher-Passagen, die aus einem verträumten Anfang ein fast bedrohliches Rockstück werden lassen, wenn Schlagzeug und E-Gitarre übernehmen und gehetzte Stimmungen verbreiten. Und wer seinen Latein-Übersetzer bemüht, der weiß, dass „Durch das Leben“ hinter dem Titel steckt – und die 5 Minuten genau das wiedergeben, was mitunter 80, 90 oder 100 Jahre andauern kann. Wen NEUSCHWANSTEIN jetzt nicht gefangen nehmen, egal ob nun Klassik- oder Rock-Freak, die sollten auf Schlager und Blasmusik umsteigen!
Allerdings entgeht ihnen dann die zweiteilige instrumentale Vertonung von <a href="http://www.longbowrecords.de/index_html_files/Florence%20Coleman.jpg" rel="nofollow">„Florence Coleman“</a>, einem Mädchen, das eine Woche vor ihrem 12. Geburtstag von einem Pferdefuhrwerk erfasst wurde und kurze Zeit später starb.
Aufbauend auf ein Bibel-Zitat zu Sodom und Gomorra (1. Moses 19) ballert uns mit <a href="http://www.longbowrecords.de/index_html_files/Angels%20of%20Sodom.jpg" rel="nofollow">„The Angels Of Sodom“</a> ein schwer bedrohliches Klassik-Donnerwetter im besten Sinne des Edgar Allen Poe gedenkenden, klassisch-rockenden ALAN PARSONS PROJECT-Hammer-Stücks „The Fall Of The House Of Usher“ entgegen, um dann von der doch seltsamen, vorgelesenen „Geschichte vom kleinen Hähnchen“, die wie ein Fremdkörper auf dem Album wirkt, abgelöst zu werden. Unverständlich erscheint hierbei besonders, dass diese ironisch angehauchte Geschichte zur „allerhöchsten moralischen Erbauung“ nicht als das Stück gewählt wurde, welches man auf der LP-Ausgabe des Albums ausspart, sondern dass stattdessen die progressiv härteste, aber ausgezeichnete Rock-Nummer „The Distributor“ daran glauben musste. Aus Sicht des Kritikers jedenfalls eine krasse Fehlentscheidung.
„Der Mond ist aufgegangen“ offenbart sich als eine wunderschöne, klassische, rein instrumentale „Schlaflied“-Symphonie der über 230 Jahre alten Schulz-Vertonung des Gedichts von Matthias Claudius, deren akustische NEUSCHWANSTEIN-Schönheit auch kein großes Klassik-Orchester toppen kann.
Die symphonische Ruhe setzt sich dann in dem ebenso entspannten, fast ein wenig schmalzig wirkendem Klassiker (<a href="https://www.youtube.com/watch?v=Nin9kFXy3Oc" rel="nofollow">1. Satz der Sonate für Fagott und Klavier op.168</a>) von Camille Saint-Saëns (1835 - 1921) „Wehmut, stark wie Banyuls“ fort, um der „Fine Art“ ein traumhaft klingendes Ende zu bereiten. Am besten man öffnet sich gleich danach eine gute Flasche Banylus (sehr starker französischer Rotwein mit einem Alkoholgehalt zwischen 15 und 22 Prozent) und hört dieses ebenso süchtig machende, auch klangtechnisch sehr gut umgesetzte „Fine Art“-Album gleich noch einmal von vorn!
FAZIT: Kann man dieses Album von NEUSCHWANSTEIN wirklich 38 Jahre nach „Battlement“ als eine Art Comeback bezeichnen?
Nein, kann man nicht, denn „Fine Art“ ist ein erneutes Meisterwerk von NEUSCHWANSTEIN, das sich grundlegend vom Vorgänger unterscheidet und statt nach frühen GENESIS oder CAMEL zu klingen, klassische Musik und progressiven Rock in sich vereint und miteinander verschmelzen lässt. Art Rock allererster Güteklasse – ein Lehrstück aus „symphonisch-neoromantischem Orchesterklang und rockiger Kapelle“!
Erschienen auf www.musikreviews.de am 24.12.2016
Robby Musenbichler, Valentin Neuroth
Thomas Neuroth, Karel Szelnik
Rainer Kind
Gudula Rosa (Flöte), Sabine Fröhlich (Violine), Gary Woolf (Querflöte)
LongbowRecords
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01.07.2016