Was für ein Cover! Zumindest wenn man etwas genauer hinschaut.
Auf „Point“ von der OLEG PISSARENKO BAND tropft inmitten des Weltalls aus dem „O“ ein Tropfen. Und dieser Tropfen ist die Erde. Geheimnisvoll ist das allemal und man fragt sich, was für Musik sich hinter solchem Cover verbirgt. Öffnet man das Jewel-Case erwartet einen bereits die nächste Überraschung, denn dahinter ist kein CD-Silberling, sondern eine CD-“Goldling“ verborgen, vielleicht um die Sonne zu symbolisieren, um die sich der erdige Point-Tropfen dreht. Trotzdem ist es keine kosmische oder vordergründig elektronische Musik, die uns erwartet, sondern zärtlich verträumter, vorrangig von akustischer Gitarre lebender Minimal-Jazz. Die Milchstraße im musikalischen Universum gut gemachten Jazz-Rocks eben, der auch keine Scheu vor postrockigen oder ambientartigen Klängen hat, wobei er besonders den Reiz der Ruhe ausstrahlt, ganz ähnlich wie es (Diese Parallele ist schon des Album-Titels wegen bewusst gewählt!) die „Sterntaler“ (1978) von MICHAEL ROTHER, dem ehemaligen KRAFTWERK-, NEU! und HARMONIA-Musiker, oder die „Apocalypse“ (1974) des MAHAVISHNU ORCHESTRAs taten.
OLEG PISSARENKO allerdings stammt aus einer ganz anderen Ecke dieser Welt, nämlich Estland, wo er als einer der bekanntesten Musiker schlechthin gilt. Warum das der Fall ist, wissen wir bereits nach dem ersten Hördurchgang von „Point“! Denn dieses Album ist großartig!
Sein Beginn mit ruhigen, fast zerbrechlichen akustischen Gitarren-Klängen, zu denen sich Synthesizer, Piano, Bass hinzugesellen und eine traumhafte Ode an den „Serene Morning“ zelebrieren hat bereits etwas Beruhigendes und zugleich Hypnotisches. Man denkt an einen Morgen voller Ruhe, der kaum schöner beginnen kann. „Serene Morning“ klingt wie das Erwachen nach einer leidenschaftlichen Nacht, bei dem die Sonne ins Zimmer scheint, unser Blick zur noch schlafenden Geliebten gleitet und wir uns ihr erneut zärtlich zu nähern versuchen. Zwar wollen wir sie dabei noch nicht aufwecken, aber wir sind voller froher Erwartung auf das, was uns bevorsteht, wenn sie endlich, angeregt von unserem Streicheln, ihre Augen aufschlägt. Ganz ähnlich streichelt OLEG PISTARENKO mit seinem Quartett aus Gitarre, Keys, Kontrabass und Schlagzeug auf „Point“ unsere Ohren.
„Point II“ beginnt mit ruhigen Keyboard-Sequenzen, die ein wenig an die ruhigen Passagen aus PINK FLOYDs „Echoes“ erinnern, bis dann die akustische Gitarre im Verein mit kompliziert anmutenden Schlagzeug-Rhythmen und Orgel-Klängen eine sich steigernde Atmosphäre aufbaut, die sich zwischen WEATHER REPORT und dem MAHAVISHNU ORCHESTRA bewegt. Ein unglaublich faszinierendes Stück!
Während der insgesamt vier Teile von „Point“ tauchen immer wieder neue, sehr interessante Einflüsse auf. Doch das darauf folgende, 11 Minuten lange „Holon“ setzt genau die Maßstäbe, die wir von den besten Zeiten eines PIERRE MOERLEN‘S GONG-Album kennen, geht aber noch etwas darüber hinaus, weil es frei jazzende, ruhige Improvisationen mit einbindet und sich nach 7 Minuten zu einem richtig fetten Sound entwickelt, der den wiederum besten Zeiten der Kollaboration von PAT METHENY und LYLE MAS sehr nahe kommt.
Und als wäre diese reichhaltige Abwechslung nicht schon genug, erwartet uns auf „Tonic Dominant“ sogar eine seltsam verzerrte E-Gitarre und verrückte Keyboard-Klänge, die sich mit einem Kontrabass und wilden Schlagzeug-Rhythmen duellieren. Zweieinhalb Minuten ziemliche Härte, zumindest die härtesten „Point“-Minuten, die dann auf dem letzten Stück „Reality“ wieder zurückgefahren werden und dem Kontrabass und einem auf den Becken gespielten Schlagzeug vordergründige Freiheiten einräumen, während im Hintergrund ein Piano tröpfelnd klimpert und sich die akustische Gitarre immer wieder hinzugesellt.
FAZIT: Ein Album, das uns zwar das Tor zum Universum öffnet und trotzdem die Frage hinterlässt, warum im klitzekleinen Europa so wenig aus diesem nördlichsten Land des Baltikums und damit seinem Ausnahme-Jazz-Musiker OLEG PISSARENKO angekommen ist. Höchste Zeit, unsere Türen weit aufzustoßen, und das bereits dritte Album der OLEG PISSARENKO BAND herzlich bei uns einzulassen. Ich jedenfalls habe mir, nachdem ich mich mit „Point“ so intensiv als Kritiker beschäftigen durfte, sofort die beiden Vorgänger-Alben „Free Child World“ (2009) und „Who Are You“ (2012) bestellt.
Punkte: 14/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 22.03.2016
Mihkel Mälgand
Oleg Pissarenko
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Sireena / Broken Silence
44:12
18.03.2016