Sollte es irgendwo statistische Erhebungen zum Vorkommen bestimmter Begriffe in Songtiteln geben, so sind Schlüsselwörter wie „Lie“, „Killing“, „Freak“, „Garden“, „God“ und „Gun“ vermutlich zu Beginn der 90er in besonderer Häufung anzutreffen. Die Periode wäre mit Blick auf die Tracklist also schon mal eingegrenzt. Welche exakte Rolle SEEDS OF MARY in der damals regierenden MTV-Palette aber nun einnehmen, ist gar nicht mit voller Überzeugung zu beantworten: Spricht das rotzige Gesamtauftreten für Grunge insbesondere der ALICE IN CHAINS-Schule, so bringt die bluesig-sleazige Note auch die GUNS 'N' ROSES ins Spiel. Alternativ-schrammelig wie SKUNK ANANSIE oder SOUNDGARDEN zeigt man sich bisweilen auch und lugen da nicht sogar ein, zwei Soli der hardrockigen „Load“-Phase METALLICAs hervor?
Als wessen Erben man die Franzosen betrachtet, hängt damit sicher auch davon ab, an welcher Stelle des einerseits homogenen, andererseits ungemein wildwüchsigen Einstünders man sich gerade befindet. Fest steht nur, was früher Graben- und Glaubenskriege verursachte, verknüpfen die Synapsen heute zu einer einzigen, musikalisch alles in allem ziemlich coolen Ära. So unterschiedlich die konkurrierenden Genres und Stilrichtungen damals auch gewesen sein mögen, sie entsprangen einem gemeinsamen Zeitgeist, den Marys Samenkorn sozusagen „in ganzer Bohne“ zu reanimieren versucht – egal ob man nun persönlich Bandanas zu seinen Leggins vorzieht oder Ringelpullis auf zerrissenen Jeans.
Das visuelle Konzept der CD hätte man jedenfalls bei so ziemlich jeder Gitarrenband der damaligen Zeit in dieser Machart vorfinden können. Symbolik, wohin auch immer man im Poster-Booklet seinen Blick richtet. Politische und religiöse Motive, Songtexte im Collage-Stil auf Notizblöcken und in Bibeln. Ein rebellischer Unterton folglich in Jérémy Dourneaus Stimme. Und obwohl die Platte mit „Under The Bed“ recht unspektakulär beginnt – weder besonders hart noch weich, weder ungewöhnlich schnell noch langsam – verursacht das Quintett bald einen unmerklichen Sog, der sich vielleicht mit dem letzten ALICE IN CHAINS-Album „The Devil Put Dinosaurs Here“ vergleichen lässt.
Der erste Song, der wirklich aufhorchen lässt, ist dann „Killing Monsters“, weil er der Philosophie NIRVANAs folgend auf die Kraft des „stripped down“ vertraut; mehr noch, als der gleiche Song sich in einer Unplugged-Version am hinteren Ende der Platte völlig entkleidet. Ein schöner Refrain, folgend auf einen intim wirkenden Rahmen. Vielleicht in der Originalversion doch etwas mehr als nur ein Mann mit einer Gitarre, aber das Publikum scheint trotzdem ganz wie an einem Lagerfeuer bloß aus ein paar Zuhörern zu bestehen.
„Killing Monsters“ ist dann auch der Gewehrschuss als Signal für die Rosenblätter, sich langsam zu öffnen. Über die Sloppyness einiger Strophen muss man hinausgehen, um auf durchaus epische Grunge-Hymnen zu stoßen, wofür etwa „Epicurean Garden“ ein gutes Beispiel ist. Herauszuheben ist sicherlich auch „God And A Gun“, dem als deftiger Hard Rock mit Gunners-Stigma der wohl heftigste Earcatcher gelingt.
FAZIT: Alben wie dieses helfen jüngeren Generationen, die Musik der 90er als zusammenhängende Epoche zu verstehen. Man ist natürlich nicht so tief drin in den feinen Unterschieden wie damals (alleine schon, weil Retro und Authentizität sich kategorisch ausschließen), man muss sich auch für keine Seite entscheiden, doch das ist ja gerade das Schöne dabei – über jeden Dogmatismus hinweg einfach nur auf easy schalten zu können. „Choose Your Lie“ mag nicht allzu tief in die Substanz schneiden, aber es lässt etwas Vergangenes hinter einer Glaskuppel noch einmal aufblühen.
Punkte: 10/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 01.10.2016
Xavier Collard
Jérémy Dourneau, Tom Collet, Xavier Collard
Julien Jolivet, Tom Collet, Paul Parsat
Arthur Mastella
Send The Wood
59:36
14.10.2016