Mal wieder so ein Album, bei dem einen die Vergangenheit einholt. In diesem Falle die DDR-Vergangenheit des Kritikers. Denn als der fein eingesperrt im Land der sozialen Errungenschaften, aber diktatorischen Wegweiser ohne Hoffnung auf Freiheit saß, gab es ein Gerücht, das wir Jugendlichen hinter vorgehaltener Hand munkelten. Irgendwer hatte einen Titel gehört, <a href="https://www.youtube.com/watch?v=IjowaMDrbjI" rel="nofollow">der „Moskau“ (Die englische Schreibweise „Moscow“ war uns nicht geläufig, die russische „Moskwa“ schon!) hieß</a> und in dem es angeblich die Zeile „Panzer, Panzer stehen vor Moskau!“ gäbe. Das entsprach in der DDR glattweg reiner politischer Blasphemie (Denn unsere Götter, die wir anzubeten hatten, waren alte Greise mit roten Kommunismus-Fürzen im nicht sonderlich geistvollen Hirn!), so wie wenn man heutzutage in der Kirche blank ziehen und nackte Brüste, Muschis und Pimmel zeigen oder ins Weihwasser kacken würde. Wortwörtlich eine kreuzgefährliche Lästerung gegen welches System auch immer. Man traute sich noch nicht einmal, genauer nachzuforschen, wie man sich diesen Song besorgen könnte und von wem der überhaupt war. Alles viel zu gefährlich.
Jedenfalls hätte ich, der kleine Musik und Literatur liebende, unfreiwillige DDR-Häftling, mir vor etwa 40 Jahren niemals träumen lassen, dass ich heute mit einem Laptop auf dem Schoß und lauter Musik in den Ohren eine Kritik genau zu der Band schreiben würde, die für den gefährlichsten Titel, der vom Hören-Sagen her in der DDR kursierte, verantwortlich war: WONDERLAND. Da kommt fast etwas Trauer auf, dass auf „Wonderland Band No. 1“ (1971), dem ersten Album von WONDERLAND in seiner digital remasterten 2016er-Ausgabe, nicht „Moscow“ mit enthalten ist. Sogar LES HUMPHRIES war damals noch Band-Mitglied, bevor er dann seine weltberühmten LES HUMPHRIES SINGERS gründete. Aber was soll‘s - den Kult-Song hatte ich mir irgendwann bereits heimlich auf einem Tonband und später, als die aus Stein zwar gefallene, aber in vielen Köpfen noch recht robust weiterbestehende Mauer keine weltbewegende Rolle mehr spielte, sogar auf CD besorgt. Das war Pflicht. Und dann gab‘s da auch noch die späte, schreckliche Erkenntnis, dass „Panzer“ in diesem Song definitiv nicht vor „Moscow“ standen.
„Wonderland Band No. 1“ entschädigt aber jeden, der die Band um ACHIM REICHEL und FRANK DOSTAL nur mit ihrem einzigen Hit in Verbindung bringt, mit diesem Album ohnegleichen. Denn es ist ein Meisterwerk der Extra-Klasse, das manchmal wie eine deutsche „Atom Heart Mother“-Version mit Gesang („The Liberal John F. Baverstock“ und „The Hill“) klingt, die selbst PINK FLOYD, welche 1970, also ein Jahr zuvor, ihr wohl ungewöhnlichstes Album mit dem weltberühmten Kuh-Cover herausbrachten, in einem neuen Licht erscheinen ließ. WONDERLAND, die mit riesiger Besetzung - einem gigantischen Rock-Orchester im Grunde - ihre psychedelische Pop-Reise antreten, setzen dem extrem verkopften Floyd-Opus mit ihrer Variante eine eingängigere Alternative entgegen, die ebenfalls von vielen Bläsern, aber auch röhrenden Orgeln, gespenstigen Drums, fetten Bässen, krachenden Gitarren und gigantischem, manchmal fast beängstigendem, an NICK CAVE und DOUG INGLE von IRON BUTTERFLY erinnernden Gesang sowie Xylophonen und jeder Menge anderer Instrumente lebt. Aber es bleiben auch unverkennbar die Qualitäten von Reichels und Dostals Vorgänger-Band, den RATTLES, erhalten, die immer recht BEATLES- oder MANFRED MANN-like klangen, wie in diesem Falle bei „Heya, Donna Leya“ oder „I Make Music“.
„Unfaithful“ wiederum klingt wie ein Stück von SYD BARRETT, das PINK FLOYD aus Versehen vergessen haben, als sie „The Piper At The Gates Of Dawn“ einspielten. Und erst der gigantische Long-Track „The Hill“ besitzt doch tatsächlich den Mut zu einem ausgiebigen Bass-Solo und verbreitet von seiner ganzen Atmosphäre her genau die Stimmung, die wir von „In-A-Gadda-Da-Vida“ - dem progressiven Kult-Long-Track schlechthin - kennen und lieben gelernt haben!
Und wenn man jetzt noch verrät, dass der Klang dieses vor genau 45 Jahren erschienen, einzigen WONDERLAND-Albums dermaßen liebevoll remastert und aufgefrischt wurde, dass er nicht nur kristallklar rüberkommt, sondern auch herrlich darauf achtet, die in den frühen 70ern so beeindruckenden Kanaltrennungen aufrecht zu erhalten (ganz ähnlich wie wir es von der schweineteuren BEATLES-Box kennen), dann ist klar, dass wir es hier nicht nur musikalisch, sondern auch klangtechnisch mit einem musikhistorischen Meilenstein zu tun haben, der leider im Gegensatz zu den BEATLES- und FLOYD-Alben beinahe in Vergessenheit geraten wäre.
FAZIT: Ein Meisterwerk, das im Grunde jahrelang unbeachtet in irgendwelchen Musik-Archiven schmorte. Schon jetzt eine der Wiederentdeckungen des Jahres 2016. Schade, dass sich die Band nach diesem Album wegen Missstimmungen auflöste - wer weiß, was uns sonst noch aus dem Hause WONDERLAND erwartet hätte.
Kurzes PS: Unglaublich, aber wahr! Das Album wurde von JAMES LAST produziert. Und ob man ihn und seine Musik nun mag, bleibe dahingestellt, aber produktionstechnisch ist „Wonderland Band No. 1“ allererste Sahne!
Erschienen auf www.musikreviews.de am 17.02.2016
Benny Bendorf, Hans Hartmann, Sten-H. Lineberg, Kalle Trapp
Frank Dostal, Achim Reichel, Claus-Robert Kruse, Rale Oberpichler
Achim Reichel, Helmuth Franke, Ladi Geissler, Claus-Robert Kruse, Bernd Steffanowski, Kalle Trapp
Claus-Robert Kruse, Hans-Uwe Reimers
Peter Franken, Jo Nay, Barry Reeves, Dicky Tarrach, Walter Rudolph
Max Lindner (Xylophone & Chimes), Bernhard Gediga, Peter Kallensee, Ernst Möhlheinrich, Walter F. Peru, Bernhard Gediga (Trompeten), Heinz Fadle, Hermann Henrich, Friedrich Rohde, Wiegand Scheidenbach (Posaunen)
Sireena / Broken Silence
43:42
19.02.2016