Im Vorfeld gebe ich es offen und ehrlich zu: „Ich bin nicht bibeltreu, sondern ein Agnostiker, aber trotzdem glaube ich Ungläubig-Hoffnungsvoller bestens zu verstehen, was uns XAVIER NAIDOO mit seinem neusten Album, das er als eine Fortsetzung seines ersten, so überraschend erfolgreichen Albums ‚Nicht von dieser Welt‘ ansieht, auf dem er deutschsprachigen Rap und Soul klangvoll miteinander verband, auszudrücken versucht.“
Natürlich hat Naidoo nicht zu unrecht gehörig so einiges auf seine Musik-Mütze bekommen, besonders wegen seiner unverständlichen Zusage wortwörtlich wahl- und, getreu merkelschen Diktator-Sprechs, „alternativlos“ für dieses Land, dem die Musik-Kultur mehr am Hintern als in den Hirnen klebt, im Rahmen des Eurovision Song Contests aufzutreten. Das ging dann auch gehörig dorthin, wo es hingehört - nämlich in die Hose.
Dafür dürfen wir uns aber auf dem neusten Album, das so neu im Grunde vom Ansatz her gar nicht ist, im Poesie-Booklet mit jeder Menge weiser Bibelsprüche oder anderen Weisheiten von Goethe bis Albert Schweitzer und gar Friedrich Nietzsche aufheitern lassen. Besonders schön ist dabei Psalm 23 „Der Herr ist mein Hirte“, den man spätestens nach PINK FLOYDs „Animals“-Auseinandersetzung doch nicht mehr ernst nehmen kann, seitdem diese sich ebenfalls auf den gleichen Psalm berufend, die Menschen vom Hirten-Herren - kurz auch GOTT genannt - in Richtung Schlachthof marschieren ließen. Dagegen wirkt einer der besten Songs des Albums, „Ich will leben“, wie die paradoxe Antithese auf diese Psalmeierei.
Wie dem auch sei, XAVIER NAIDOO jedenfalls ist nach wie vor noch Gottes zahmes, singendes Schäfchen. Und gut singen kann er wirklich - nur macht man auf diesem Album viel zu wenig daraus. Verfremdet oder „verrapt und verscratcht“ immer wieder dessen Stimme, was manchmal bei so einigen arg banalen Textbotschaften gar nicht so schlecht ist. Wenn dann aber plötzlich so großartige Balladen wie „Ich will leben“, auftauchen, in dem Naidoo dem Schlachthof-Morden an Tieren für unsere menschliche Fressgier ein Denkmal setzt, dann macht das viel von den musikalisch-textlichen Schwächen dieses Albums durchaus wieder wett: „Drum sag es Freunden, sag es Feinden, sag es allen, sag es jedem, den du kennst / Solang mein Fleisch und Blut für euch ein Gut ist, sie uns essen, tragen, morden / Und du denkst, dass ich nicht fühle, werd‘ ich fühlen, wie es ist, dass du nicht denkst / Aber das weißt du doch schon längst - Ich will leben!“ Zum Glück wurde diesem Text dann kein Bibelspruch, sondern ein Zitat ALBERT SCHWEITZERs beigefügt, das passender nicht gewählt hätte werden können: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Vielleicht hilft er ja mit diesem Song auch ein paar Tiere zu retten, wenn seine Fans nicht nur zuhören, sondern auch ihr Essverhalten ändern können.
18 Jahre ist es nun bereits her, dass XAVIER NAIDOO mit der Hilfe von MOSES PELHAM die Musik-Anlagen und Bühnen unseres Landes mit „Nicht von dieser Welt“ eroberte. Und diese Eroberung versucht er nun mit seinem schon damals bewährten Team erneut fortzusetzen. Doch das wird schwer werden. Die Zeiten ändern sich und hinterlassen auch aus heutiger Sicht so einige Kerben an dem Teil 1, dem nun der zweite Teil folgt und der nicht etwa wie „Nicht von dieser Welt“ klingt, sondern sich gehörig darin einrichtet. Stimmungen und textliche Botschaften erscheinen manchmal fast kopiert und nur ein wenig aufgefrischt - so als hätte Naidoo ein musikalisches Sauerstoff-Zelt für eine Musik-Frischzellen-Kur besucht und wäre danach mit seiner Idee für „Nicht von dieser Welt 2“ wieder aufgetaucht. Und wie selbstverständlich generiert sich, um bei diesem Bild zu bleiben, MOSES PELHEIM wieder als Sauerstoff-Zelt-Betreiber.
Unverkennbar liegen die absoluten Stärken des Albums wieder in den Balladen, <a href="http://ampya.com/artists/xavier-naidoo/frei" rel="nofollow">wie beispielsweise „Frei“</a>, von denen es zum Glück einige gibt und in einer Überraschung, die sein 2016er Album abschließt und gar nicht hoch genug gelobt werden kann.
Und natürlich würde ich eine Wette halten, dass unser musikalischer Hoffnungsträger und Glücksbringer garantiert mit „Frei“ an den Start gegangen wäre, wenn man ihn beim ESC hätte so machen lassen, wie es unser gebührenfinanziertes Verblödungsfernsehen vorgesehen hätte. Durchaus nicht schlecht die Ballade, aber eben nicht von denjenigen gewählt, die bis dato den Öffentlich-Rechtlichen am Arsch vorbeigingen. Beim Vorausscheid zum ESC hätte dieser Song garantiert auch große Chancen gehabt. Doch das bleibt nach dem deutschen ESC-Desaster alles Spekulation, selbst wenn Naidoo mit „Im Prinzip“ dieses Thema noch einmal öffentlich anschneidet: „Die, die sich ereifern / Ham mich schon so oft tot geglaubt / Für alle ihre Zweifel / Bin ich blind und oh so taub.“ Da ist einer ge- und betroffen, auch wenn er uns mit diesem Lied weismachen will, dass es nicht so ist. Denn auch in anderen Songs dieses Albums klingen XAVIER NAIDOOs Verletzungen durch.
Nun aber zu der letzten Überraschung. Sie erwartet einen mit „Amazing Graze“, dem letzten Titel der normalen CD-Version. Hier singt Naidoo völlig solistisch und unglaublich stark, dass man beim Hören seiner Stimme wirklich eine Gänsehaut bekommt. Ähnlich ging es mir einst bei der Vokal-Variante von „God“ die PRINCE auf seiner Maxi von „Purple Rain“, die PRINCE wie „nicht von dieser Welt“ sang!
Ansonsten gibt‘s nicht viel Neues aus dem Hause Naidoo zu vermelden. Noch immer ist er der singende Prediger, noch immer liebt er für die Gestaltung seiner Alben die Farben Schwarz, Gold (und zum Glück nicht Rot, sondern) Weiß! Noch immer liebt er das Pathetische, noch immer klingt er wie gehabt, ein wenig austauschbar und trotzdem nicht schlecht. Allerdings sollte er sich beim Texten nicht weiterhin auf MOSES PELHAM, der zwar gerne auch mal zuhaut, aber ansonsten den textenden Moralapostel spielt, verlassen. Dann klingt er nämlich ziemlich verlassen - und wenn der Pelham dann auch noch zu rappen anfängt, au weia!
Dafür entschädigt dann nicht mal mehr die Bonus-CD „Allein mit Flügel“ der Deluxe-Edition, auf der Naido zuhause beim Pianisten NEIL PALMER seine neuen Lieder mit Palmers Flügel-Begleitung einsingt. Eine schöne, entspannte, sehr ruhige Beigabe, die bei keinem Kaffee-Kränzchen fehlen sollte, solange Pelham nicht, wie bei „Das Prinzip“, seinen schrecklich gesungenen, mies intonierten Rap, der wie ein aus Versehen offen gelassener Hosenstall klingt, raushängen lässt.
FAZIT: Er ist mal wieder „Nicht von dieser Welt“ unser XAVIER NAIDOO. Und das bereits zum zweiten Mal. Beim ersten Versuch vor 18 Jahren verkaufte er davon 1,5 Mio. Tonträger. Da war Naidoo auch noch ein frischer, leidenschaftlicher, junger Musik-Hüpfer. Nun aber ist er abgeklärt, berechenbar, musikalisch und politisch angeschlagen und klingt viel zu erwachsen, verbittert und gezähmt. Streicht das „Nicht“ und ihr wisst, wie das neue Album vom Musik-Prediger Naidoo klingt.
Punkte: 9/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 30.03.2016
Willy Wagner
Xavier Naidoo, Moses Pelham
Ali Neander
Neil Palmer, Martin Haas, Moses Pelham, Markus Onyuru, Bayz Benson
Raphael Zweifel (Cello)
Naidoo Records
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01.04.2016